Nuray Sancar (Hrsg.): Sıcak Haziran. Sonraki Direnişe Mektup. Verlag Evrensel Basım Yayın. Istanbul 2013. ISBN: 9786054834358 

Mit glänzenden Augen
Ein Blick aus Deutschland auf den kurzen Sommer der „Çapulcu“-Rebellion in der Türkei


Von Pascal Beucker und Anja Krüger

 

Unter der Überschrift Işıldayan gözlerle. Türkiye’deki „çapulcu“ isyanının kısa yazına almanya’dan bir bakış auf türkisch veröffentlicht in: Nuray Sancar (Hrsg.): Sıcak Haziran. Sonraki Direnişe Mektup. Verlag Evrensel Basım Yayın, Istanbul 2013. ISBN: 978-6054834358.

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Solidaritätsdemo mit dem Gezi-Park-Protest in Istanbul / Copyright: Pascal BeuckerEin Samstagabend im Juni 2013, kurz vor 22 Uhr. Über den Taksim-Platz in Istanbul wehen mal wieder Tränengasschwaden. Auf dem Roncalliplatz in Köln ist es dunkel geworden. Als letzte Gruppe steht „Bandista“ auf der Bühne . Die aus der Türkei angereiste Ska-Combo spielt „Haydi Barikata“. Die etwa 1.000 Menschen, die bis jetzt ausgeharrt haben, jubeln und tanzen. Das Solidaritätsfest vor dem Dom ist der Abschluss eines langen Demonstrationstags. Angefangen hat er zehn Stunden zuvor mit einer Großkundgebung auf dem nur wenige hundert Meter entfernten Heumarkt. Unter dem Motto „Her yer Taksim! Her yer direniş!“ versammelten sich Zehntausende Menschen auf dem Platz vor dem Reiterstandbild des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm III.. Eine Woche nach der brutalen Räumung des Gezi-Parks demonstrierten sie ihre Verbundenheit mit der türkischen Demokratiebewegung.

Die Ereignisse in der Türkei haben viele Menschen in Deutschland tief bewegt. Verwundert und beeindruckt beobachteten sie, wie aus dem kleinen Protest weniger Hundert Aktivisten gegen die Zerstörung einer Grünanlage eine riesige zivilgesellschaftliche Bewegung gegen staatliche Bevormundung entstand. Über Twitter, Facebook oder den Liveticker auf der Internetseite gezipark.nadir.org verfolgten sie gebannt, wie die „Çapulcu“ der autoritären Staatsmacht die Stirn boten. Sie lernten, dass die Anhänger von Beşiktaş Istanbul nicht nur zu den lautesten Fußballfans der Welt gehören, sondern die Çarşı auch noch verdammt mutige Verteidiger demokratischer Rechte sind. Per Livestream lauschten sie dem nächtlichen Konzert des 31-jährigen Davide Martello auf dem Taksim-Platz. Und es ging ihnen das Herz auf, als der deutsch-italienische Pianist mitten unter tausenden friedlicher Demonstranten und argwöhnisch beäugt von der Polizei auf seinem Klavier John Lennons „Imagine“ spielte, jene Hymne für eine friedlichere und sozialere Welt ohne Nationalismus und religiösem Fanatismus. Es war eine kurze Verschnaufpause vor dem Sturm.

Die deutschen Zeitungen, TV- und Radiosender schickten ihre Reporter auf den Taksim-Platz und in den Gezi-Park. Mitunter mit glänzenden Augen berichteten sie von einer Bewegung, mit der niemand gerechnet, die niemand erwartet hatte. Für die alternative Berliner tageszeitung (taz) war ihr Redakteur Deniz Yücel hautnah vor Ort. Fasziniert schilderte er seine Erlebnisse. „Menschen, die noch vor ein paar Wochen füreinander Verachtung verspürten, stehen plötzlich Schulter an Schulter“, schwärmte er. Mit der „größten Zärtlichkeit und Höflichkeit“ begegneten sich Linke und Liberale, Kurden und Kemalisten, Aleviten und Sunniten, Feministinnen und Fußballfans, Homosexuelle und gläubige Muslime - geeint im gemeinsamen Kampf gegen das autokratische Erdoğan-Regime. Es klinge nach „Revolutionskitsch“, aber er habe „hier Leute aus den armen Vierteln“ gesehen, „und dann gibt es diejenigen, die nach Feierabend aus ihren Büros kommen“. Das gehe quer durch alle Schichten und politischen Gruppen. „Wer in einer flüchtenden Masse erlebt, wie sich die unterschiedlichsten Menschen umeinander kümmern, kann davon viel eher Tränen in die Augen bekommen als durch das Gas der Polizei“, zeigte sich Yücel tief beeindruckt. Kaum etwas illustriert seine Beschreibung besser, als jenes legendäre Foto, auf dem zwei junge Menschen zu sehen sind, die gemeinsam vor einem Wasserwerfer fliehen: er trägt eine Fahne der kurdischen BDP, sie eine Türkeiflagge samt Atatürk-Konterfei.

Als ein „Labor der Demokratie“ bezeichnete das Hamburger Nachrichtenmagazin Spiegel die heterogene Widerstandsbewegung, die viele Menschen auch außerhalb der Türkei begeistert hat. In der kurzen Zeit ihrer Existenz erschien die Zeltstadt im Gezi-Park ausländischen Besuchern als eine Oase fernab von einem autoritätsgläubigen Verständnis von Politik und Gesellschaft, die durch gegenseitigen Respekt und den Willen zur Partizipation geprägt war, in der freie Meinungsäußerung und das Recht auf Kritik garantiert waren, wo Selbstorganisation im Dialog praktiziert wurde. Neben Ökologen, die für den Erhalt des botanischen Gartens der Universität Unterschriften sammelten, warben Mitglieder einer linken Partei für die Einheit des Proletariats. Säkulare Feministinnen störten sich in ihrer „belästigungsfreien Zone“ nicht an den wenige Meter entfernten Frauen mit Kopftüchern von den „antikapitalistischen Muslimen“. Bei jedem, der selbst während jener zwei magischen Wochen den Gezi-Park besuchen konnte, dürfte die solidarische Atmosphäre in diesem kreativen „melting pot“ einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben. „Ein Hauch von Revolutionsromantik und 1968 liegt über dem Zeltlager“, schrieb der Tagesspiegel aus Berlin. Die Gezi-Park-Bewegung ist zum Inbegriff für eine andere, eine demokratischere Türkei geworden.

Vielleicht ist das ein etwas zu idealisierender Blick, geboren aus einer Momentaufnahme. Man sollte sich in Acht nehmen, eigene Hoffnungen und Träume auf die türkische Protestbewegung zu projizieren. Auch historische Vergleiche stehen stets unter dem berechtigten Verdacht, beträchtlich zu hinken. Trotzdem: Manch älteren politischen Aktivisten in Deutschland mag das Camp der „Çapulcu“ am Rande des Taksim-Platzes an jene basisdemokratisch organisierte „Freie Republik Wendland“ erinnert haben, die deutsche Atomkraftgegner im Mai 1980 im niedersächsischen Gorleben errichteten. Um gegen ein geplantes Atommülllager zu protestieren, errichteten mehrere tausend Besetzer ein Hüttendorf auf dem Gelände, auf dem das Nuklearprojekt gebaut werden sollte. 33 Tage dauerte die Besetzung, dann kam die polizeiliche Räumung. Damals waren noch alle im Bundestag vertretenen Parteien für die Atomenergie. Doch den seinerzeit rein außerparlamentarischen Widerstand konnten CDU, CSU, SPD und FDP nicht brechen. Eine der Folgen: Drei Jahre nach dem Ende der „Freien Republik Wendland“ zogen die Grünen erstmalig in das deutsche Parlament ein. Eine viel spätere weitere Folge: Während die Erdoğan-Regierung den Bau des ersten türkischen AKWs an der Mittelmeerküste in der Provinz Mersin plant, beschloss vor zwei Jahren der Bundestag mit großer Mehrheit endlich die Stilllegung aller deutschen AKWs. Das letzte soll im Jahr 2022 vom Netz gehen. Das zeigt, dass sich ein langer Atem lohnen kann.

Etliche erinnerte die Gezi-Park-Bewegung auch an die Auseinandersetzungen um das Bahnvorhaben „Stuttgart 21“, die im Herbst 2010 die Schlagzeilen in der Bundesrepublik beherrschten. Auch hier demonstrierten Bürger gegen die Abholzung von Bäumen zugunsten eines aberwitzigen Großprojekts, auch hier wuchs die Protestbewegung rasant durch einen völlig unverhältnismäßigen Polizeieinsatz. Aber damit enden auch schon die Gemeinsamkeiten. Denn so groß die Empörung über den Einsatz von Schlagstöcken, Wasserwerfern und Pfefferspray gegen friedliche Demonstranten war, blieb die Bewegung beschränkt auf den - letztlich vergeblichen - Kampf für die Verhinderung des Bauprojekts und blieb deshalb auch regional begrenzt auf die baden-württembergische Landeshauptstadt Stuttgart. In der Türkei wuchs der Protest hingegen quantitativ wie qualitativ weit über seinen eigentlichen Anlass hinaus. „Der Kampf um einen kleinen Park ist zur Metapher für Demokratie und eine menschenwürdige Wirtschaftsordnung geworden, so heterogen und spontan die Menschen auch zusammengekommen sind“, konstatiert der emeritierte Hamburger Rechtsprofessor Norman Paech. Es sei „nicht nur der autoritäre Zugriff, der Eingriff in die private Lebensgestaltung, der die Menschen auf die Straße treibt, sondern der Protest gegen eine neoliberale Privatisierung aller öffentlichen Güter, aus denen man Profit schlagen kann“, so der 75-jährige frühere Linkspartei-Abgeordnete.

Deutschland ist auf eine vielfältige Weise mit der Demokratiebewegung in der Türkei und ihrer brutalen Niederschlagung verbunden. Da ist zum einen die großzügige Ausrüstung und Ausstattung der türkischen Polizei.  Nicht nur das Pfefferspray, das gegen die Demonstranten eingesetzt wurde, stammte zu einem nicht unerheblichen Teil aus der Bundesrepublik. Durch die polizeiliche Zusammenarbeit mit der Türkei würde „die rechtsstaatliche Entwicklung des Landes befördert“, lautet die zynische Begründung der Bundesregierung. Deswegen werde auch eine Einstellung der Zusammenarbeit „nicht erwogen“.

Da sind zum anderen die rund 3,4 Millionen in der Bundesrepublik lebenden Menschen, die ihre familiären Wurzeln in der Türkei haben. Die Älteren von ihnen sind zumeist nach dem im Jahre 1961 abgeschlossenen Anwerbeabkommen als „Gastarbeiter“ eingewandert. Einige flohen nach den Militärputschen von 1971 und 1980 in die Bundesrepublik. Dass sie die Geschehnisse in der Türkei sehr bewegen, ist nachvollziehbar. Aber die türkeistämmige Community hat sich über die Jahrzehnte gewandelt. Mittlerweile besteht der Großteil aus gebürtigen Deutschen, die das Land ihrer Väter und Mütter, ihrer Großväter und Großmütter nur aus Erzählungen oder gelegentlichen Urlaubsreisen kennen. Trotzdem elektrisierte sie die türkische Demokratiebewegung - im Positiven wie im Negativen. Deswegen reiste taz-Redakteur Deniz Yücel auf dem Höhepunkt der Proteste in die Türkei. „Für uns Almancı ist die Türkei nicht irgendein Land“, schrieb er in einem seiner Artikel. Er habe herkommen wollen, weil er „zum ersten Mal überhaupt das Gefühl“ gehabt habe, „dass mein Platz gerade nicht in Berlin ist, sondern hier in Istanbul“ sei. Plötzlich hätte für den Journalisten, der 1973 als Sohn türkischer Arbeitsmigranten im hessischen Flörsheim geboren wurde und seit 1996 in der deutschen Hauptstadt lebt, die Zeile aus einem Exilantenschlager aus den 1980er Jahren eine ungeahnt aktuelle Bedeutung: „Şimdi Istanbul'da olmak vardı anasını satayım.“* Das gleiche Gefühl hätten „so gut wie alle meine Almancı-Freunde und Kollegen, die nicht das Glück haben, eine Reise nach Istanbul mit ihren Jobs vereinbaren zu können“.

Allerdings haben dieses Gefühl nicht alle Almancı: Wie die Gesellschaft in der Türkei ist auch die türkeistämmige Community in Deutschland tief gespalten. Nach wie vor gibt es nicht wenige Auslandstürken, die dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan unverbrüchlich die Treue halten.  Für sie sind die Protestierenden vom Gezi-Park nicht zum Symbol für die große Sehnsucht nach einer freiheitlich-demokratischen und humanistischen Gesellschaft geworden, sondern geben nur Anlass für absurde Verschwörungstheorien über böse ausländische Mächte, die die Türkei zerstören wollten. Anfang Juli veranstaltete die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD) in Düsseldorf eine Demonstration mit mehreren zehntausend Teilnehmern. "Die Türkei ist stolz auf dich", feierten sie ihren neo-osmanischen „Führer“ Erdoğan. In ihrer Satzung gibt die 2004 gegründete UETD vor, sie sei „parteipolitisch und weltanschaulich neutral“. Auch behauptet sie, für die Integration der in Deutschland lebenden Menschen mit türkischer Zuwanderungsgeschichte einzutreten. Doch das ist eine Camouflage und eine Lüge. Bei ihren Versuchen, die Auslandstürken für ihre politischen Ziele einzuspannen, nutzt vielmehr die AK-Partei den in einer Villa in Köln residierenden Verein als eine Art 5. Kolonne. So organisierte die UETD bereits Erdogans umstrittene Deutschlandauftritte 2008 in Köln und 2011 in Düsseldorf.

Dass demokratisch gewählte Machthaber, die die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich glauben, durch die Art ihrer Herrschaftsausübung Zweifel an ihrer Demokratiefähigkeit wecken, ist kein türkisches Phänomen. Erdoğan orientiert sich offenkundig an prominenten Beispielen wie der „gelenkten Demokratie“ des russischen Präsidenten Wladimir Putin. In beider Weltbild steht jegliche Opposition im Verdacht, mit „Putschisten“ und „Terroristen“ gemeinsame Sache zu machen. Als Erdoğan vor zehn Jahren das Amt des Premierministers übernahm, versprach er mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die Verfolgung politischer Gegner sollte endlich ein Ende haben. Inzwischen verhält er sich nicht weniger autoritär als die alte starrköpfige kemalistische Elite, die er abgelöst hat. Ein Beleg dafür ist, dass in keinem anderen Land der Welt mehr Journalisten in Haft sitzen als in der Türkei. Bei dem Vorsitzenden der AK-Partei denke er „unwillkürlich an Charles de Gaulle“, schrieb kürzlich der liberale Journalist Alan Posener in der Welt. Wie Erdoğan heute, habe der konservative de Gaulle im Mai 1968 „den Blick für die Wirklichkeit“ verloren und angesichts der antiautoritären Studentenrebellion von drohender Subversion und Tyrannei gesprochen und Jagd auf Studenten machen lassen. Auch in der Türkei stünde den Oppositionellen nach dem euphorischen Gipfelerlebnis dieses Sommers die Mühen der Ebene bevor. Dabei müsse Europa schon im eigenen Interesse „den langen Marsch vom Taksim-Platz durch die Institutionen der Türkei unterstützen“, meint Posener.

Tatsächlich weist der kurze Sommer der Rebellion, den die Türkei im Juni diesen Jahres erlebt hat, auf die Sehnsucht nach einer Türkei ohne Panzer und Wasserwerfer, ohne die Verfolgung und Einkerkerung Andersdenkender. Doch das ist noch nicht alles: Der Traum von einer besseren Welt, den die Menschen im Gezi-Park träumten, ist international. Nâzım Hikmets Worte bleiben aktuell: „Yaşamak bir ağaç gibi / tek ve hür ve bir orman gibi / kardeşçesine, bu hasret bizim.“**

* „Verdammt, jetzt müsste man in Istanbul sein.“

** „Leben wie ein Baum, einzeln und frei / doch brüderlich wie ein Wald, / das ist unsere Sehnsucht.“


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