15.08.2013

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Jungle World

 Wo ist der Wahlkampf?
Von Pascal Beucker

Sechs Wochen vor der Bundestagswahl ist der Wahlkampf noch nicht in Sicht.

Wenn einem nichts mehr einfällt, bleibt nur noch der »Veggie Day«. Seit die Bild-Zeitung in der vergangenen Woche mit der absurden Schlagzeile »Grüne wollen uns das Fleisch verbieten« aufmachte, ist zum ersten Mal so etwas wie Stimmung in den bislang flauen Bundestagswahlkampf gekommen. Empörungswellen schwappen durch das Land. »Was kommt als nächstes: Jute-Day, Bike-Day, Green-Shirt-Day?«, wetterte FDP-Spitzenkandidat Rainer Brüderle. Das sei »ein weiterer Baustein für die grüne Bundesverbotsrepublik«, echauffierte sich CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe. »Die Deutschen sollen selber entscheiden, was sie essen wollen«, entgegnete SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück den Grünen.

Es ist schon bemerkenswert, wie ein völlig belangloser Punkt auf Seite 164 des im April verabschiedeten Wahlprogramms der Grünen jetzt zum großen Aufreger avancieren kann. Dabei ist der »Veggie Day« ein alter Hut. Die Ökopartei tritt seit Jahren dafür ein. Dass durch einen fleischlosen Tag in öffentlichen Kantinen das Abendland untergeht, ist nicht zu erwarten: Schon 2011 haben die Grünen mit der SPD in ihren Koalitionsverträgen in Rheinland-Pfalz und Bremen vereinbart, einen solchen »Veggie Day« zu unterstützen. Daraus resultierende Auswanderungswellen aus den beiden Bundesländern sind nicht bekannt. Zumal gläubige Christen römisch-katholischer oder orthodoxer Provenienz es ohnehin gewohnt sind, an einem Tag in der Woche auf Fleisch zu verzichten: Freitag ist Fischtag – was übrigens für Kantinen in besonders religiös geprägten Regionen der Republik vor nicht allzu langer Zeit noch obligatorisch war. Das hat die Welt ebenso wenig besser oder schlechter gemacht, wie es ein »Veggie Day« machen würde. Die Menschen haben andere Probleme.

Aber der »Veggie Day« ist ein schönes Thema, bei dem jeder mitreden kann, der ansonsten nichts zu sagen hat. Von daher eignet er sich bestens für die diesjährige »Wahlschlacht«. Denn es mangelt zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Grün an echten Streitthemen, zu gleichförmig war die Politik der zwei vermeintlich konkurrierenden Blöcke in den vergangenen Jahren. Manches Reizthema, wie den Atomausstieg oder die Abschaffung der Wehrpflicht, hat Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in der ablaufenden Legislaturperiode mehr oder weniger elegant abgeräumt. Auch mit ihrer demonstrativen Empörung über das Verhalten der Bundesregierung in der BND-NSA-Affäre können die SPD-Wahlkämpfer nicht wirklich punkten. Aus gutem Grund hat der frühere sozialdemokratische Bundesinnenminister Otto Schily seine Partei eindringlich davor gewarnt, den Skandal leichtfertig zum Wahlkampfthema zumachen. Schließlich war es die rot-grüne Koalition, die den Weg für die umfassenden Spähattacken ebnete.

Bei anderen potentiell kontroversen Fragen, wie der Europapolitik, beschränkten sich SPD und Grüne im Bundestag aufs Lamentieren, trugen jedoch mit ihren Stimmen das Krisenmanagement der Regierung mit. Zudem wollen weder die Regierungskoalition noch die rot-grüne Opposition Stimmen an Euro- und EU-Skeptiker von rechts oder links verlieren. Selbst die Grünen, die sich bislang stets als die »Europa-Partei« zelebrierten, verzichten bewusst auf ein Plakat mit einer europapolitischen Losung. Das hatten sich führende grüne Europapolitiker gewünscht, doch der Bundesvorstand ließ sie auflaufen, wie die Taz Ende Juli offenbarte. Es ist kaum verwunderlich, dass sich Union und FDP mit Blick auf die rechtspopulistische »Alternative für Deutschland« alle Mühe geben, Diskussionen über ein neues Rettungsprogramm oder gar einen Schuldenschnitt für Griechenland erst nach der Wahl wieder auf die bundesdeutsche Tagesordnung kommen zu lassen.

Da wirkte es zunächst fast wie ein geschickter Schachzug, als Herausforderer Steinbrück Amtsinhaberin Merkel vorhielt, bislang noch nicht eine einzige große Pro-Europa-Rede gehalten zu haben. Gleichwohl ist sein Manöver wahlkampftaktisch zumindest ambivalent. Denn Steinbrücks Vorwurf dürfte Merkel bei den zahlreichen Euroskeptikern in den eigenen (und auch den sozialdemokratischen) Reihen eher nützen. Endgültig zum ungewollten Unionswahlkampfhelfer machte sich der SPD-Kanzlerkandidat allerdings, als er dann auch noch Merkels fehlende Leidenschaft für Europa mit ihrer DDR-Sozialisation erklärte. Mal wieder tappte Steinbrück zielsicher ins Fettnäpfchen. Er könnte einem fast schon leid tun.

Dass der 66jährige ehemalige Verwaltungsbeamte ein lausiger Wahlkämpfer ist, hätte die SPD eigentlich schon vorher wissen können. Doch offenkundig ist bei seinen Parteifreunden die Erinnerung an den völlig vermurksten nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf 2005, der mit der krachenden Abwahl Steinbrücks als Ministerpräsident endete, allzu sehr verblasst. Lieber ließen sie sich blenden von den Jubelarien, die die Hauptstadtjournaille bis zu seiner Nominierung auf ihn sang. Die Genossen ignorierten, dass das Faible der bürgerlichen Presse für Steinbrück daher rührte, dass der so wunderbar antisozialdemokratisch daherkam. Nun beklagen sie sich über eine vermeintlich bösartige Medienkampagne gegen ihren Frontmann. Ganz so, als wäre das sich ankündigende Desaster am 22. September nicht selbstverschuldet. Steinbrück kann vor Bankern und Wirtschaftsmanagern reüssieren, mit dem einfachen »Wahlvolk« hat er es nicht so – weder vom Habitus noch von seinen Überzeugungen her. »Die SPD sollte ihren Grundgedanken – soziale Gerechtigkeit – in diesem Wahlkampf in aller Deutlichkeit zum Tragen bringen«, empfiehlt Jürgen Trittin in der Welt am Sonntag seinem Wunschkoalitionspartner. Wie soll das jedoch mit einem Kandidaten funktionieren, der sich eigentlich nur für seine eigene soziale Frage interessiert?

In ihre Wahlkampagne investiert die SPD 23 Millionen Euro – so viel wie keine andere Partei. Angefangen von der Peinlichkeit, den Werbespruch einer Leiharbeitsfirma zu ihrem Slogan gemacht zu haben: Was dabei bislang herausgekommen ist, ist schon erstaunlich. »Die Sozialdemokratie zerbeißt sich die Unterlippe vor Wut und Verzweiflung über den Wahlkampf aus der Berliner Wilhelmstraße«, ätzt der PR-Berater Klaus Kocks, Honorarprofessor für Kommunikationsmanagement an der Fachhochschule Osnabrück. In der Parteizentrale hätten »sich die halbgebildeten Bürokraten mit halberfahrenen Agenturhanseln zu einem Wahlkampfteam gefunden, das eine Kampagne so führt, wie man in Schilda das Ordnungsamt und die Friedhofsverwaltung führt«, rauft sich das SPD-Mitglied über das »Treiben der Trottel« die Haare.

Während es die SPD mit »negative campaigning« probiert und sich auf ihren Plakaten äußerst unoriginell an Angela Merkel abarbeitet, führt die Union einen Wohlfühlwahlkampf. Alles, was polarisieren und der Opposition Stimmen zutreiben könnte, hat sie in den Giftschrank verbannt. Als Anfang vergangener Woche bei der Vorstellung der ersten Motive, mit denen die CDU den Straßenwahlkampf einläutete, Generalsekretär Gröhe gefragt wurde, welches dieser Plakate nicht auch die SPD kleben könnte, fiel ihm nicht viel ein. »Früher hätte ich gesagt, das Plakat mit Angela Merkel, aber nicht mal da ist auf die SPD Verlass«, spottete er. Ansonsten bestehe der Unterschied darin, »dass Sie auf SPD-Plakaten keine freundlichen Menschen finden«.

Glaubt man den Demoskopen, zahlt sich Merkels Weichspülermasche aus. In den letzten drei Umfragen liegt die Union zwischen 40 Prozent und 42 Prozent. Die SPD dümpelt hingegen zwischen 23 Prozent und 25 Prozent vor sich hin. Der Wahlausgang verspricht zwar knapp zu werden, aber nicht zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Grün. Da alles danach aussieht, dass die FDP die Fünf-Prozent-Hürde nehmen wird, scheint rechnerisch eine Ablösung der gegenwärtigen Regierungskoalition höchstens gemeinsam mit der Linkspartei realistisch. Diese Variante ist jedoch politisch unrealistisch, so sehr Gregor Gysi auch für sie wirbt.

Für die Linkspartei ist die allgemeinpolitische Ausgangssituation eigentlich ideal. Sie wirkt geradezu wie eine Kopie der Situation 2009: Wieder tritt die SPD mit einem parteirechten Technokraten als wenig ausstrahlungskräftigem Spitzenkandidaten an, der zudem auch noch inbrünstig für das Sozialstaatsabbauprogramm der »Agenda 2010« steht. Wieder spricht wenig bis nichts dafür, dass es für eine eigenständige rot-grüne Mehrheit reichen könnte, was Wechselwähler der Linkspartei hätte abspenstig machen können. Wieder schließt die SPD keine Koalitionsvariante aus – mit Ausnahme einer Kooperation mit der Linkspartei. Was bedeutet, dass es am 22. September wohl nur darum gehen wird, welche andere Partei mit der Union regieren darf: FDP, SPD oder Grüne. Vor vier Jahren hat diese Konstellation dazu geführt, dass die Linkspartei mit einem Rekordergebnis von 11,9 Prozent in den Bundestag eingezogen ist.

Doch trotz des bislang katastrophalen SPD-Wahlkampfs steht die Linkspartei in den Umfragen derzeit zwischen sieben und acht Prozent und liegt damit unter ihrem Wahlergebnis von 2005. Die Aufbruchstimmung der damaligen Zeit, als die ostdeutsche PDS und die westdeutsche WASG mit Gregor Gysi und Oskar Lafontaine an der Spitze zusammenfanden, ist längst verflogen. Mit Ausnahme des kleinen Saarlands wird die Linkspartei nach dem 22. September in keinem Flächenland des Westens mehr parlamentarisch vertreten sein. Bei der hessischen Landtagswahl parallel zur Bundestagswahl dürfte sie hochkant aus dem Parlament fliegen, beim bayerischen Urnengang eine Woche zuvor bei unter drei Prozent landen. Die Linkspartei scheint wieder auf dem Weg zur PDS zu sein: relativ stark im Osten, marginal im Westen – und damit bundesweit mehr oder weniger unbedeutend. Wenn sie nicht aufpasst, wird sie sogar noch um ihren Wiedereinzug in den Bundestag bangen müssen.

Unter tosendem Beifall beschloss Oskar Lafontaine 2005 auf dem Landesparteitag der nordrhein-westfälischen Linkspartei in Essen seine Bundestagskandidaturrede mit einem Zitat von Victor Hugo: »Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.« Vielleicht ist das das Problem im diesjährigen Bundestagswahlkampf: Der Linkspartei fehlen die zündenden Ideen – und es fehlt an einer Bewegung, die sie tragen könnte. Schlechte Aussichten für die Linke, auch außerhalb der Linkspartei. Also reden wir lieber über den »Veggie Day«. Zu dem hat auch Linkspartei-Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn eine knallharte Meinung: »Die Erziehungsdiktatur der Grünen ist antiemanzipatorisch.« Gut, dass wir darüber gesprochen haben.


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