19.09.2013 |
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Absturz der Grünen |
Von Pascal Beucker |
Wenige Tage vor der
Bundestagswahl werden die Grünen von der Debatte um ihre
frühere Haltung zur Pädophilie eingeholt. Ihr
Spitzenkandidat Jürgen Trittin kämpft nun um seinen
politischen und persönlichen Ruf.
Es
ist trostlos. Im Nieselregen verlieren sich an diesem
Samstagmorgen nur wenige Menschen auf den Markt im Kölner
Stadtteil Höhenhaus. Rainer Blum legt einer Seniorin eine
Sonnenblume in den Rollator. Ins Gespräch mit ihr kommt der
grüne Direktkandidat für den Wahlkreis
Köln-Mülheim/Leverkusen nicht. Drei Parteifreunde stehen an
dem Stand, den die Grünen zwischen einem Biobäcker und einem
Olivenverkäufer aufgebaut haben. Dass sie an diesem
Samstagmorgen viele Stimmen gewinnen werden, glauben die
älteren Herren nicht. »Aber man muss Präsenz zeigen«, sagt
Winfried Seldschopf. Die Stimmung des grünen
Fraktionsvorsitzenden in der örtlichen Bezirksvertretung
könnte besser sein. Es läuft nicht gut. Sogar den Ausruf
»Ich wähle doch keine Kinderficker« hätten sich die grünen
Wahlkämpfer schon gefallen lassen müssen. Lange sah es so aus, als sei ihr Aufstieg
unaufhaltsam. Die Vorbereitung auf die Bundestagswahl wirkte
perfekt. Erst nominierten die Grünen im Herbst vorigen
Jahres per Urwahl ihre in allen Beziehungen ausgewogene
Doppelspitze: Mit Jürgen Trittin, dem ehemaligen Minister
mit linker Vergangenheit, und der wertkonservativen Christin
Katrin Göring-Eckardt setzten sie darauf, eine möglichst
große Klientel ansprechen zu können. Dann beschlossen sie im
Frühjahr mit großer Einigkeit ihr Bundestagswahlprogramm. Es
verzichtet auf Ecken und Kanten. Wer es nicht unbedingt
will, kann sich nicht daran stoßen: ein bisschen ökologisch,
ein bisschen bürgerrechtlich, ein bisschen sozial – aber
immer »voll durchgerechnet«. Zur Basismobilisierung
veranstaltete die Partei im Sommer einen Mitgliederentscheid
über neun Projekte, die bei einer etwaigen grünen
Regierungsbeteiligung prioritär sein sollen: vom Eintreten
für erneuerbare Energien über die Beendigung der
Massentierhaltung bis zur Abschaffung von Niedriglöhnen. Das
war im Juni 2013, und in den Umfragen standen die Grünen bei
15 Prozent. Gut motiviert und wohltemperiert, schien bei
ihnen nichts mehr schiefgehen zu können. Was für eine
Täuschung. Über die Gründe für die grüne Malaise ist
sich das politische Feuilleton von taz bis FAZ einig: Die
Partei habe sich programmatisch zu weit nach links
ausgerichtet, was die Kommentatoren an den Steuerplänen der
Grünen festmachen, die – im Gegensatz zur Praxis der letzten
rot-grünen Bundesregierung – Besserverdienenden keinen
Gewinn, sondern einen kleinen Verlust einbringen würden.
»Die Grünen haben sich verrannt«, konstatiert Jan Feddersen
in der taz. Sie hätten sich nicht »auf linkes,
wohlfahrtsstaatliches Terrain begeben« dürfen.
Steuererhöhungen seien eine Programmidee, »die die grüne
Aura von Verzicht und Belehrung allzu sehr verstärkt«. Es
sei zwar so, »dass in einem moralischen Sinne jeder gern
geben möchte, wenn es aber an Steuersätze geht, ein jeder
ans eigene Portemonnaie fasst«. Bei Berthold Kohler in der
FAZ klingt das nicht anders: »Hauptgrund für die
Schwindsucht in den Umfragen aber dürfte ihre
Steuererhöhungs- und Umverteilungsagenda sein, mit der die
Grünen wieder ihr wahres Gesicht zeigten: das einer
besserwisserischen Bevormundungspartei, die dem Bürger bis
hin zur Ernährung vorschreiben will, wie er nach ihrer Façon
selig werden soll.« Das ist jedoch eine allzu ideologische
und interessengeleitete Sichtweise, die einer ernsthaften
Prüfung nicht standhält. Denn wäre die These richtig, dass
die Grünen mit ihren Steuerplänen einen nennenswerten Teil
der eigenen Anhängerschaft nicht nur treffen, sondern
verprellen würden, dann hätten sie schon weitaus früher in
den Umfragen verlieren müssen. Doch als sie im April ihr
Programm verabschiedeten, befanden sie sich noch im Aufwind.
Ihre Steuerbeschlüsse waren etwas für das Wohlgefühl der gut
situierten Grünen-Klientel: jenes postmaterialistische
Neubürgertum, für das Marketingstrategen und
Zeitgeistsoziologen das Akronym Lohas (»Lifestyle of Health
and Sustainability«) erfunden haben. »Fühlt euch
geschmeichelt, dass wir euch für so altruistisch halten«,
laute das Kalkül des Grünen-Programms, kommentierte damals
Ulrike Winkelmann in der taz den Marketingtrick. Die Partei
vertraue auf die politstrategische Intelligenz der
akademisch gebildeten Grüngeneigten, denen bewusst sei,
»dass es eh nicht so kommen wird«. Sofern die Grünen nach
der Bundestagswahl an einer Regierung beteiligt seien,
würden sie »sich sicher nicht an der steuer- und auch nicht
an der sozialpolitischen Front abkämpfen«. Auch der »Veggie Day«
erklärt den grünen Abschwung nicht. Die olle Kamelle, die
schon seit einiger Zeit weitgehend unbemerkt in den
rot-grünen Koalitionsvereinbarungen von Rheinland-Pfalz und
Bremen klebt, mag zwar die deutschen Stammtische empören
– viel mehr aber auch nicht. In den
Souterrains der Gesellschaft, wo es für die Grünen ohnehin
nicht viel zu holen gibt, kommt die Propagierung des
Fleischverzichts zwar nicht so gut an. In der Beletage der
bildungsbürgerlichen Post-Achtundsechziger-Elite gehört der
Vegetarismus in seiner dosierten »Veggie Day«-Form indes
beinahe schon zum guten konsumkritischen Ton. Um die wahren Ursachen für den Absturz zu
begreifen, reicht ein Blick auf die Wahlkampagne der Partei.
Statt auf plakative Forderungen zu setzen, entschieden sich
die Grünen für einen reinen Stimmungswahlkampf. Dabei
bediente sich die von ihnen engagierte Werbeagentur »Zum
Goldenen Hirschen« der denkbar billigsten Methode. Mit
Vorliebe wählte sie für die grüne Plakatkampagne Fotos von
Jungen und Mädchen aus, denen sie mehr oder weniger
originelle Sprüche zugesellte: »Ich werd mal Energie-Riese«,
»Eure Schulden will ich nicht«, »Ich sag: Hello Kita« oder
»Meine Mudda wird Chef«. Keine andere Partei hat in diesem
Wahlkampf so viele Kindermotive verwendet wie die Grünen.
Als Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckardt gemeinsam mit
Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke Anfang Juli stolz die
Plakate der Öffentlichkeit präsentierten, hätte ihnen
eigentlich schon bewusst sein müssen, was für eine
unfassbare Fehlentscheidung sie bei der Motivwahl getroffen
hatten. Nur wenige Tage später veröffentlichte die hessische
CDU ihre wenig analytische, aber wirkungsmächtige »Analyse
der pädophilen Vergangenheit der Grünen«. Angefangen mit der hitzigen
Auseinandersetzung um die Verleihung des Theodor-Heuss-Preis
an Daniel Cohn-Bendit im April, setzte sich die Diskussion
über die Distanzlosigkeit zur Pädophilie in den grünen
Anfangsjahren nun wieder fort. Die Grünen dachten, sie
könnten das unangenehme Thema aus dem Wahlkampf
heraushalten, indem sie Mitte Mai das von dem
Parteienforscher Franz Walter geleitete Institut für
Demokratieforschung der Universität Göttingen mit einem bis
2014 laufenden Forschungsprojekt zur Aufarbeitung der
dunklen Flecken in der Parteigeschichte beauftragten. Das
war ein großer Irrtum. Alleine schon, dass die Grünen mit
Pädophilie in Verbindung gebracht werden, sorgt für tiefe
Verunsicherung innerhalb ihrer Wählerklientel. Der
berechtigte Hinweis, dass es sich in der Realität um ein
unangenehmes, aber randständiges Phänomen falsch
verstandener Toleranz handelte, das konservative Medien
jetzt für eine nicht an Aufarbeitung orientierte
Hetzkampagne gegen das alternative Milieu nutzen, nützt
dabei wenig. Bei den Grünen habe sich »ein Gemisch aus
Ratlosigkeit, Lähmung, ja: Furcht vor der Debatte
breitgemacht«, konstatieren die Göttinger Wissenschaftler
Franz Walter und Stefan Klecha. In der FAZ, im „Spiegel“ und in der taz
haben Walter und Klecha inzwischen äußerst lesens- und
bedenkenswerte Zwischenergebnisse ihrer Forschungsarbeit
veröffentlicht. Was ihnen nicht vorzuwerfen ist: Die
Schlagzeilen bestimmen jedoch nur ihre »Enthüllungen«, wie
die, dass Jürgen Trittin 1981 der presserechtlich
Verantwortliche des Kommunalwahlprogramms der
Alternativen-Grünen-Initiativen-Liste (AGIL) war, in dem im
Programmabschnitt »Schwule und Lesben« die Reform der
Paragraphen 174 und 176 des Strafrechts gefordert wurde.
Damit ist seit Montag die Debatte beim grünen
Spitzenkandidaten angekommen, der nunmehr um seinen
politischen und persönlichen Ruf kämpfen muss. In einer
Stellungnahme erklärte Trittin, wie die Forderungen
seinerzeit ins Programm gelangen konnten: »Es war das
Selbstverständnis der Göttinger AGIL, die Forderungen
einzelner Initiativen – in diesem Fall der Homosexuellen
Aktion Göttingen – Eins zu Eins zu übernehmen«, erläuterte
er. »Diesem falschen Politikverständnis und diesen falschen
Forderungen haben wir uns nicht entgegengestellt.« Das trage
auch er Verantwortung, es seien auch seine »Fehler, die ich
sehr bedauere« gewesen. Helfen dürfte ihm das wenig:
Genüsslich wie infam bezichtigte CSU-Generalsekretär
Alexander Dobrindt Trittin, »Teil des Pädophilie-Kartells
bei den Grünen« gewesen zu sein, der »als Frontmann
untragbar« sei. Wie schon in Bayern droht den Grünen nun auch bundesweit der Fall unter die Zehn-Prozent-Marke. Bei bis zu 20 Prozent hatten die bayerischen Grünen mal gelegen, nach den letzten Umfragen vor der Wahl konnten sie immerhin noch auf ein zweistelliges Ergebnis hoffen. Übrig geblieben sind 8,6 Prozent. Damit schnitten sie schlechter ab als vor fünf Jahren. Hält der grüne Abwärtstrend an, dürfte es auf Bundesebene am kommenden Sonntag rechnerisch nicht einmal mehr für eine rot-rot-grüne Mehrheit reichen. Das allerdings wäre nicht nur bitter für die Grünen, sondern auch für die SPD. Sie hätte sich vergeblich auf die große Koalition vorbereitet. |
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