05/2013 |
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Flucht und Vertrauen |
Von Pascal Beucker |
Yücel Özdemir, Korrespondent
von Evrensel,
lebt seit 20 Jahren in Deutschland Yücel Özdemir
sitzt in seinem schmucklosen Büro im Technologiepark im Kölner
Stadtteil Müngersdorf. Der Deutschlandkorrespondent der türkischen
Tageszeitung
Evrensel (Universal) bereitet
sich auf einen Fernsehauftritt vor. Das Studio von „Hayat TV“ ist nur
wenige Meter entfernt. Dort wird ihn gleich die Moderatorin Suna Canan
für ihre sonntägliche Sendung „Avrupa’da hayat“ („Leben in Europa“)
befragen. Zum NSU-Prozess. Der 44-Jährige gehört zu jenen 50 Journalisten, die
beim zweiten Akkreditierungsverfahren des Oberlandesgerichts München
einen der hoch begehrten ständigen Beobachterplätze erhalten haben.
„Das NSU-Verfahren ist historisch relevant, weil es entscheidend dafür
ist, ob die Angehörigen der Opfer und die Einwanderer insgesamt das
Vertrauen gegenüber Deutschland und den Deutschen wiedererlangen
können“, sagt er. Seine Stimme verrät: Es geht auch um sein eigenes
Vertrauen. Seit 20
Jahren lebt Yücel Özdemir in Deutschland. In der Türkei war der damals
25-Jährige zu sechs Jahren Knast verurteilt worden. Sein „Verbrechen“:
Neben seinem Mathematikstudium an der Universität Istanbul war Özdemir
verantwortlicher Redakteur der linken Wochenzeitschrift
Gerçek
(Realität), der Vorläuferin von
Evrensel.
Nach der Veröffentlichung eines geheimen Militärprotokolls, in dem es
um die Bespitzelung von Kurden, Aleviten und Linken ging, machte ihm
die türkische Justiz den Prozess wegen „Landesverrats“. Özdemir blieb
nur noch die Flucht. Die Bundesrepublik gewährte ihm Asyl. Lange hat
der Journalist, der seit 2002 auch die deutsche Staatsbürgerschaft
besitzt, auf die Aufhebung des in der Türkei ergangenen
Unrechtsurteils warten müssen. Im Juli 2012 durfte er erstmals wieder
sein Geburtsland besuchen. Im Konferenzraum des Kölner
Evrensel-Büros hängt ein altes
Plakat von amnesty international. „Meinungsfreiheit ist
Menschenrecht“, steht darauf. „Niemand darf dafür eingesperrt werden.“ In
Deutschland können nicht viele etwas mit dem Namen des
linksoppositionellen Blattes anfangen. In der Türkei sieht das trotz
der geringen Auflage, die derzeit durchschnittlich bei 6.000
Exemplaren liegt, etwas anders aus. Dass es
Evrensel
bis heute gibt, gleicht einem Wunder. Besonders in den ersten Jahren
nach ihrer Gründung im Juni 1995 war die regierungskritische Zeitung
immer wieder Ziel massiver staatlicher Repressalien. Unzählige
Ausgaben wurden konfisziert. Permanent durch Strafverfahren und
Schließungsverfügungen in ihrer Existenz gefährdet, reichten die gegen
sie erhobenen Vorwürfe von „Aufstachelung zum Klassenhass“ bis zu
„separatistischer Propaganda“ – wegen ihres Einsatzes für eine
friedliche Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts. Journalisten
wurden verhaftet und gefoltert. Trauriger
Höhepunkt, der die kleine sozialistische Zeitung auf tragische Weise
bekannt machte: Am 8. Januar 1996 wurde in Istanbul der
Evrensel-Reporter
Metin Göktepe in Polizeigewahrsam zu Tode geprügelt. Die Ermordung des
27-jährigen Journalisten sorgte für einen Sturm der Entrüstung in der
gesamten türkischen Presse und weit darüber hinaus. Im Mai 1999 wurden
sechs Polizisten zu Freiheitsstrafen von siebeneinhalb Jahren
verurteilt – ein für die damaligen türkischen Verhältnisse
sensationelles Ergebnis. 60 Redakteure
arbeiten heute in der Evrensel-Zentrale im Istanbuler
Stadtteil Kocamustafapaşa. Darüber hinaus verfügt die Zeitung über
Büros in Ankara, Izmir, Kocaeli, Adana und Diyarbakir. Ein ziemlich
großer Apparat für ein kleines Blatt. Allerdings macht die
Evrensel-Crew
seit Dezember 2007 nicht nur Zeitung, sondern auch Fernsehen. „Hayat
TV“ („Leben TV“) heißt ihr ambitionierter Nachrichtensender, der sich
als eine Art „CNN von unten“ versteht. Auch Özdemir hat seine eigene
Sendung auf dem über Türksat ausgestrahlten und werbefinanzierten
Satellitenkanal: Jeden Mittwoch moderiert er von Köln aus „Avrupa
Penceresi“ („Europas Fenster“), eine Diskussionsrunde mit Politikern,
Journalisten, Wissenschaftlern oder Gewerkschaftern. Seit dem
Start von
Evrensel gibt es eine Dependance in
Deutschland, zunächst in Duisburg, dann im südlich von Frankfurt
gelegenen Dreieich und seit 2000 in Köln. Bis 2009 erschien eine in
der Bundesrepublik gedruckte Europaausgabe. Der Fokus blieb aber auf
die Türkei gerichtet. Das sei irgendwann nicht mehr zeitgemäß gewesen,
sagt Özdemir. Deswegen gibt es inzwischen die vierzehntägig
erscheinende
Yeni Hayat (Neues Leben), die
vollständig in der BRD produziert wird und zweisprachig erscheint.
„Die türkeistämmigen Migranten ändern sich, also müssen wir uns auch
ändern“, begründet das Mitglied der dju in ver.di die publizistische
Entscheidung. „Nach dem Brandanschlag von Solingen im Mai 1993 markiert die NSU-Mordserie den zweiten großen Bruch im Verhältnis der türkeistämmigen Einwanderer zu Deutschland“, sagt Özdemir. Im Prozess gegen Beate Zschäpe und ihre mutmaßlichen Unterstützer gehe es nicht nur um eine gerechte Urteilsfindung, sondern auch um die Aufklärung der Hintergründe. Deshalb sei auch eine kritische Begleitung äußerst wichtig. Das ist auch der Grund, warum Özdemir unmittelbar nach der Auslosung der taz und dem Neuen Deutschland anbot, seinen Platz an jenen Verhandlungstagen zur Verfügung zu stellen, an denen er nicht selbst vor Ort sein kann. Das Angebot haben sie dankend angenommen. |
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