18.10.2014

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taz

 Macht und Ohnmacht der Lokführer
Von Pascal Beucker und Richard Rother

BAHNSTREIK Kleine Gewerkschaften - kleine Streikkasse. Deshalb ihre Aggressivität. Anderswo in Europa geht es noch heftiger zur Sache.

Das gibt einen Aufschrei: Zehntausende Fußballfans kommen an diesem Wochenende nicht in Bundesligastadien. Weil die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) mal wieder ihre Macht demonstriert. Ohne Rücksicht auf Verluste.

Die GDL scheint bereit zu sein, aufs Ganze zu gehen. Doch das kann täuschen. Als kleine Spartengewerkschaft sind ihre Mittel aufgrund knapper Ressourcen limitiert. Mangels Mitgliedermasse sind die Streikkassen nicht gerade üppig gefüllt. Deshalb muss sich die GDL auf verhältnismäßig wenige Streiktage beschränken. Die sollen dafür größtmögliche Wirkung entfalten.

So nervenaufreibend und ärgerlich das aktuelle Streikwochenende der GDL auch ist: Im europäischen Vergleich erscheinen die Auswirkungen überschaubar. Der Pilotenstreik bei Air France im September in Frankreich dauerte zwei Wochen, der Bahnstreik im Juni dieses Jahres immerhin länger als eine Woche. Organisiert hatten ihn die beiden linken Gewerkschaften CGT und SUD, die damit gegen eine von der Regierung geplante Bahnreform demonstrierten - was in Deutschland rechtswidrig wäre. Zwar gewährt das Grundgesetz die Koalitionsfreiheit, zu der Juristen auch die organisierte Niederlegung der Arbeit zählen. Aber politisch motivierte Arbeitsniederlegungen sind nach der gängigen Rechtsprechung nicht zulässig.

Darunter fällt auch das Mittel des Generalstreiks, wie er andernorts zum klassischen Repertoire gehört. Aus Protest gegen das Sparprogramm der neuen Regierung wollen in Belgien am 15. Dezember die drei großen Gewerkschaften mit einem übergreifenden landesweiten Ausstand das öffentliche Leben zum Erliegen bringen - in Deutschland undenkbar.

In der BRD ist der Spielraum der Gewerkschaften stark reglementiert. So muss ein Streik ein tarifvertraglich zu regelndes Ziel verfolgen. Zu den einzuhaltenden Regularien gehört überdies, dass ein Streik nur die Ultima Ratio sein darf und "verhältnismäßig" sein muss. Das jedoch ist eine Auslegungsfrage, die von den Gerichten nicht einheitlich beantwortet wird.

Dass die deutschen Arbeitnehmer sich durch eine besondere Streikfreude auszeichnen, lässt sich kaum behaupten. Im europaweiten Vergleich liegt die BRD in Bezug auf die Zahl der Streiktage im hinteren Bereich, locker abgehängt von Frankreich, Spanien, Belgien, aber auch den skandinavischen Ländern Dänemark, Finnland und Norwegen. Im Jahr 2013 gab es nach Angaben des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) knapp 220 Arbeitskämpfe, zumeist organisiert von den DGB-Gewerkschaften. Die Streikaktivitäten von Berufsgewerkschaften wie der GDL oder der Pilotengewerkschaft Cockpit fielen hingegen kaum ins Gewicht. Aber sie haben gehörige Auswirkungen, weil es nicht vieler Mitglieder bedarf, um Züge nicht rollen und Flugzeuge nicht fliegen zu lassen. Sie müssen nur an der richtigen Stelle sitzen.

Von einer solchen Durchschlagskraft träumt auch so manche DGB-Gewerkschaft. Beispiel Amazon: Seit Längerem versucht die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di, in dem US-amerikanischen Versandhandelsunternehmen einen Tarifvertrag und bessere Bezahlung durchzusetzen. Trotz mehrfacher Streiks, auch während des wichtigen Weihnachtsgeschäfts, beißt die Gewerkschaft auf Granit. Da nicht alle Beschäftigten mitstreiken - vor allem die vielen Aushilfen und zeitlich befristeten Beschäftigten unterminieren die Streikmacht -, kann die Firma die Ausstände bislang aussitzen.

Auch im Einzelhandel ist es mit der Streikmacht der Gewerkschaften nicht weit her. Rufen sie zum Ausstand, kriegen das kaum Kunden mit - weil es immer genügend Ausweichmöglichkeiten zum Einkaufen gibt. Um überhaupt Aufsehen zu erregen, griffen Aktivisten sogar schon zum Mittel des Flashmobs.

Im öffentlichen Dienst ist das Bild differenzierter. Da kann in manchen Verwaltungen wochenlang gestreikt werden, und kein Bürger bekommt etwas davon mit. Erst im Zusammenspiel mit anderen kommunalen Beschäftigten - etwa bei der Müllabfuhr oder dem Nahverkehr - entfalten die Streikenden genügend Druckpotenzial. Wie lange aber darf der Müll liegen bleiben, wie lange können Schwimmbäder geschlossen oder wie lange dürfen Kinder in Kitas oder Horten nicht betreut werden, um höhere Löhne durchzusetzen?

Die Frage lässt sich nicht pauschal beantworten. Letztlich sind Streiks immer eine Gratwanderung für die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst: Einerseits müssen sie ökonomischen Druck aufbauen, andererseits dürfen sie den Bogen nicht überspannen und die Menschen verärgern, von deren Steuern sie bezahlt werden. Am besten klappt das, wenn sie die Interessen der Bevölkerung - etwa an einem besseren Betreuungsschlüssel in den Kindergärten - berücksichtigen.


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