28.11.2014

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taz

 Niedriglöhner sehen keine Sonne
Von Pascal Beucker

MINDESTLOHN Die Gewerkschaften werfen Finanzminister Schäuble (CDU) vor, den Mindestlohn auszuhöhlen - mit einer Verordnung, nach der die Arbeitgeber nur die Dauer der Arbeitszeit erfassen müssen. Arbeitsministerin Nahles (SPD) hat dem zugestimmt.

Die Gewerkschaften werfen der schwarz-roten Bundesregierung vor, den Mindestlohn auszuhöhlen. Noch bevor er überhaupt in Kraft getreten sei "werden bereits legale Schlupflöcher gebaut", sagte der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann am Donnerstag in Berlin. Die Regierung sei vor den Lobbyisten eingeknickt, während die Arbeitnehmervertreter "systematisch übergangen" worden seien.

Hoffmanns Unmut richtet sich gegen eine vom Finanzministerium ausgearbeitete Verordnung, die am Mittwoch das Kabinett passiert hat. Darin wird geregelt, was die Finanzkontrolle Schwarzarbeit nachprüfen soll.

Danach müssen die Arbeitgeber in bestimmten Branchen künftig nicht den Beginn und das Ende der geleisteten Arbeit erfassen, sondern nur die Dauer festhalten. Betroffen davon sind sogenannte mobile Tätigkeiten: von der Abfallentsorgung über die Straßenreinigung und den Winterdienst bis zur Zeitungszustellung. "Mit dieser lockeren Erfassung der Arbeitszeit wird dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet", warnte Hoffmann.

Die Gewerkschaften befürchten ein Einfallstor, um wirksame Kontrollen zu verhindern. Der Sinn der Regelung von Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) sei "einzig und allein die Förderung der Umgehung des Mindestlohns", kritisierte Verdi-Chef Frank Bsirske. Er warf Schäuble "Rechtsmissbrauch" vor. Die Folge seiner Verordnung sei, dass ausgerechnet Beschäftigte in den Branchen schutzloser gestellt würden, in denen Tricksereien der Arbeitgeber aufgrund der Besonderheiten der Tätigkeit ohnehin verstärkt zu befürchten seien. Hunderttausende Beschäftige seien davon bedroht.

Beispielhaft führte Bsirske die Zeitungszusteller an. Sie müssen täglich eine bestimmte Menge Exemplare ausliefern. Bisher erhalten sie in der Regel eine Entlohnung auf Stücklohnbasis - unabhängig von der Zeit, die sie für die Verteilung der Zeitungen benötigen. Um künftig sicherzustellen, dass alle Zusteller zumindest den gesetzlichen Mindestlohn erhalten, müsste ihre reale Arbeitszeit festgehalten werden. Wenn der Arbeitgeber hingegen nur Zeiten vorgibt, die er als ausreichend betrachtet, ist die Gefahr groß, dass der reale Stundenlohn niedriger ist.

Dank der Macht der Zeitungsverlegerlobby werden die Zeitungszusteller schon jetzt nicht in vollem Umfang von dem ab Anfang des Jahres geltenden gesetzlichen Mindestlohn profitieren können. Denn für sie gibt es Übergangsfristen von drei Jahren mit einem Mindestlohn von 7,50 statt 8,50 Euro. Bisher ist diese Ausnahmeregelung beschränkt auf Vertriebe, die ausschließlich Presseprodukte ausliefern. Derzeit berät die Koalition, den Kreis auch noch auf Zustellbetriebe auszudehnen, die auch Prospekte oder Post ausliefern. Auch dagegen wehren sich die Gewerkschaften.

Dass Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) der Verordnung Schäubles im Kabinett nicht widersprochen hat, könne er "überhaupt nicht nachvollziehen", sagte DGB-Chef Hoffmann. In der gegenwärtigen Form dürfe sie nicht in Kraft treten. Für diesen Freitag hat er ein Treffen mit Nahles vereinbart. Falls die von ihr mitgetragene Regelung in Kraft trete, werde geprüft, ob der DGB juristisch dagegen vorgehen kann, kündigte Hoffmann an.


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