10.06.2014 |
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„Das ist hier unser gemeinsames Land“ |
Von Pascal Beucker und Anja Krüger |
Zehntausende haben an den
Pfingstfeiertagen in Köln bei einem Kulturfest unter dem Motto
„Birlikte – Zusammenstehen“ den zehnten Jahrestag des
Nagelbombenanschlags in der Keupstraße begangen. „Dieses Fest schafft etwas Großartiges: Es
beantwortet den Hass der Wenigen mit dem Mitgefühl und der
Solidarität der Vielen“, sagte Bundespräsident Joachim Gauck am
Montag bei der Abschlusskundgebung. „Wir stehen zusammen, um allen,
die von fremdenfeindlicher Gewalt bedroht sind, zu sagen: Ihr seid
nicht allein.“ Am 9. Juni 2004 detonierte in der türkischen
Geschäftsstraße im rechtsrheinischen Kölner Stadtteil Mülheim eine
mit 5,5 Kilogramm Schwarzpulver und 800 Zimmermannsnägeln gefüllte
Drei-Kilo-Gasflasche. Deponiert auf einem Fahrrad vor dem
Friseurladen Özcan, verletzte die Bombe 22 Menschen, vier von ihnen
schwer. Wer hinter der Bluttat steckte, blieb lange ungeklärt. Was
nicht zuletzt daran lag, dass die Behörden zwar in „alle Richtungen“
ermittelten, nur nicht in die richtige. „Der Fehler war, dass wir es
nicht für möglich gehalten haben, dass es in Deutschland eine braune
Terrorbande geben kann“, sagte Kölns Polizeipräsident Wolfgang
Albers am Rande der Abschlusskundgebung. „Das hätten wir denken
müssen.“ Dieses Versagen habe „unendlich viel Leid gebracht“.
„Wie eine zweite Bombe“ Denn die Folgen waren fatal. Die Fahnder nahmen
die Menschen in der Keupstraße ins Visier, spürten einem
vermeintlichen einem „kriminellen Milieu“ nach. Das sei „wie eine
zweite Bombe“ gewesen, sagte Hasan Yildirim, der bei dem Anschlag
schwer verletzt wurde, auf einer Veranstaltung am Samstagmittag.
Erst seit der Selbstenttarnung des „Nationalsozialistischen
Untergrunds“ (NSU) im November 2011 steht fest, dass das Attentat
auf das Konto von Rechtsterroristen geht. „Ich schäme mich dafür,
dass der deutsche Staat es über so viele Jahre nicht geschafft hat,
dafür zu sorgen, dass unbescholtene Bürgerinnen und Bürger besser
geschützt wurden“, sagte Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) bei
einer Podiumsdiskussion am Montag. Das „Birlikte“-Fest sollte helfen, aufgerissene
Wunden zu heilen. Mehr als 200 kulturelle und politische
Veranstaltungen an 30 Auftrittsorten standen auf dem Programm.
„Zusammenstehen ist nicht nur eine Botschaft, sondern auch eine
Aufgabe“, sagte Kölns Oberbürgermeister Jürgen Roters (SPD) bei der
Eröffnung am Sonntag. Neben ihm auf der Bühne stand Meral Sahin von
der Interessengemeinschaft Keupstraße. „Dieses Fest bedeutet uns und
dieser Straße wahnsinnig viel“, sagte sie und rief die Zuschauer
auf: „Bleibt und kommt uns auch nach dem großen Fest besuchen.“ Nach
dem Anschlag sind die Umsätze der Geschäftsleute auf der
Multikultimeile eingebrochen.
„Rechtsterrorismus ist nicht
vorbei“ Rechtsextremismus und die noch immer nicht
aufgeklärten Hintergründe der NSU-Verbrechen standen bei vielen
Diskussionen im Mittelpunkt. Bei einer Veranstaltung im Kölner
Schauspielhaus warnte der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel: „Der
Rechtsextremismus und der Rechtsterrorismus sind nicht vorbei.“ Sie
seien „leider auch ein Teil der Gegenwart“. Doch die Gesellschaft
lasse sich nicht spalten. „Das ist hier unser gemeinsames Land“,
sagte Gabriel, „und wir lassen nicht zu, dass uns diese
rechtsextremen Spinner und Terroristen auseinanderbringen“. Mehr als 50.000 Zuschauer waren nach Angaben
der Veranstalter bei drückender Hitze zur Abschlusskundgebung am
Montag gekommen. Zwischen den Auftritten von den Fantastischen Vier,
Clueso, Brings, BAP oder der türkischen
Eurovision-Song-Contest-Gewinnerin Sertab Erener gab es eine Reihe
von Wortbeiträgen. Die beeindruckendste Rede stammte von Semiya
Simsek. Ihr Vater war das erste Opfer des NSU, ermordet im September
2000 in Nürnberg. "Solidarität darf sich nicht in gemeinsamer
Folklore erschöpfen", sagte sie. „Wir alle müssen weiter kämpfen, um
diesem Land den Nährboden für jegliche Diskriminierung zu
entziehen.“ Zwei Stunden vor dem ursprünglich anvisierten Ende musste die Abschlusskundgebung um kurz nach 20 Uhr wegen einer Unwetterwarnung vorzeitig abgebrochen werden. Doch das positive Signal der Gedenktage überstrahlt den Abbruch. „Das waren drei wichtige Tage für Köln, um etwas in Bewegung zu setzen“, resümierte der Kölner DGB-Vorsitzende und SPD-Landtagsabgeordnete Andreas Kossiski. „Mit dem Schlussakkord von heute Abend ist das Thema nicht vom Tisch.“ |
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