Heft 7/00 - Juli 2000



Sonnenblume, einbetoniert

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*  Sonnenblume, einbetoniert
Von Pascal Beucker

Morgens um drei kamen noch einmal ganz harte Sachen auf den Tisch. Zwölf Stunden hatte die Schlussrunde zwischen sozialdemokratischen und grünen Unterhändlern gedauert, dann stand sie doch noch, die Neuauflage von Rot-Grün an Rhein und Ruhr – und die Sozialdemokraten packten den Schnaps aus. "Stellt euch nicht so an, so was trinkt man im Sauerland zum Frühstück", ermunterte SPD-Generalsekretär Franz Müntefering die zaudernden grünen Emissäre. Und die schluckten. Schon wieder.

Es waren bittere Wochen gewesen, bis man endlich mit der SPD handelseinig werden durfte. Kaum eine Gelegenheit hatte SPD-Ministerpräsident Wolfgang Clement seit der Landtagswahl vom 14. Mai ausgelassen, um den Grünen zu zeigen, was er von ihnen hält: nichts. Offen flirtete er mit FDP-Stehaufmännchen Jürgen W. Möllemann und behandelte den kleinen Koalitionspartner wie dumme Jusos. Unablässig stichelte er gegen die grüne "Blockiererin" Bärbel Höhn und zog sogar noch bei gemeinsamen Presseauftritten Grimassen, wenn die Umweltministerin den Stand der Gespräche aus grüner Sicht skizzierte. Doch die grüne "Mutter Courage" und ihre Getreuen haben sich nicht irritieren lassen. In einem Punkt haben sie sich doch durchgesetzt: Sie dürfen in der Regierung bleiben. Getreu dem olympischen Motto: Dabei sein ist alles.

Mitregieren als Selbstzweck? Natürlich nicht, beteuern nordrhein-westfälische Spitzen-Grüne. Denn immerhin hätten sie doch Jürgen W. Möllemann als Clement-Stellvertreter verhindert. Das ist neu: In Nordrhein-Westfalen ist die FDP nicht nur eine Funktionspartei. Hier hat sie auch noch einen Funktionsvorsitzenden. Parteifreunden, die aufgrund der mickrigen Verhandlungsergebnisse den Gang in die Opposition präferierten, empfahl der grüne Bauminister Michael Vesper, sie sollten sich "genau überlegen, ob sie Einfluss der Grünen abgeben und zugleich Herrn Möllemann einladen wollen, unsere Gestaltungsmöglichkeiten zum Schleuderpreis zu übernehmen". Warum die Gestaltungsmöglichkeiten, die den NRW-Grünen noch verblieben sind, mehr wert sein sollten, verriet er nicht.

Ob ein Partnertausch tatsächlich Clements Kalkül entsprach, darf bezweifelt werden. Tatsache ist zwar, dass sich der selbsternannte "Vorstandsvorsitzende der NRW AG" und Möllemann schon vor der Landtagswahl zu geheimen Gesprächen in einem Münsteraner Restaurant verabredet hatten. Aber Tatsache ist auch, dass er zu keinem Zeitpunkt Signale für einen Koalitionswechsel in seine Partei sendete. Stattdessen ließ er nicht nur SPD-Landeschef Müntefering, sondern auch die Vorsitzenden der vier mächtigen SPD-Bezirksverbände in Nordrhein-Westfalen – Mittelrhein, Niederrhein, Westliches Westfalen und Ostwestfalen – offensiv für Rot-Grün plädieren. Hätte Clement Rot-Grün nicht gewollt, dann wäre zumindest der rechte Mittelrhein-Chef Norbert Rüther aus Köln mit der liberalen Alternative vorgeprescht. Der Ministerpräsident wollte "ganz schnell zum Ziel kommen, das ist alles", erklärte ein Mitglied der Staatskanzlei das vermeintliche Liebäugeln mit den Liberalen. Der forsche Sozialdemokrat habe nur die Grünen gefügiger machen wollen.

Und er musste von seiner verheerenden Wahlschlappe ablenken. Mit dem Koalitionspoker und der fortgesetzten Demütigung der Grünen konnte er eine Diskussion über das schlechteste Ergebnis für seine Partei seit 1962 vermeiden. Die NRW-SPD hat den Wechsel vom Moderator Johannes Rau zum Macher Clement nur mit einem großen blauen Auge geschafft. Nach dem Desaster bei den Kommunalwahlen im Herbst vergangenen Jahres war die Landtagswahl bereits die zweite herbe Niederlage unter der Ministerpräsidentschaft des ehemaligen Journalisten. Sein Glück, dass er machtpolitisch trotzdem besser da steht als Rau vor fünf Jahren: Er kann sich frei aussuchen, welche Partei seiner Politik zustimmen darf.

Das bekamen die Grünen schmerzhaft zu spüren. Von Anfang an ließ Clement keinen Zweifel, dass er mit ihnen nach der Devise "Friss, Vogel, oder stirb!" verhandeln würde. Und fest stand auch, dass die fressen würden. Was blieb ihnen denn anderes übrig? Wer seinen Wahlkampf unter das Motto stellt: "Wer Rot-Grün will, muss Grün wählen", hat wenig Verhandlungsspielraum, schon gar nicht, wenn die SPD noch einen Möllemann im Hinterzimmer sitzen hat.

Die Kröte im Topf?

Die Grünen hätten stets ein besonderes Verhältnis zu Kröten gehabt, schreibt Stefan Reinecke im "Tagesspiegel". Jetzt, seit NRW, gäbe es eine weitere grüne Kröten-Geschichte: "Wenn man eine Kröte in einen Topf mit kalten Wasser setzt und langsam zum Kochen bringt, dann bleibt die Kröte im Topf sitzen. Bis sie tot ist. Und merkt es nicht." Reinecke irrt: Die Grünen sitzen nicht erst seit der Landtagswahl vom 14. Mai im Topf. Sie sitzen in ihm, seit ihnen Rot-Grün als alternativlos erscheint. Die Öko-Partei hat sich von der SPD bundesweit einbetonieren lassen. Während die Genossen alle Variationen des politischen Farbenspiels virtuos beherrschen und realpolitisch flexibel zwischen PDS, Grünen, FDP und CDU wählen, hat sich das grüne Denken gefährlich verengt.

Die Fixierung auf Rot-Grün war der Preis des "historischen Kompromisses" zwischen Realos und "konstruktiven" Linken Anfang der 90er Jahre – im Bund zwischen Fischer und Trittin, in NRW zwischen Vesper und Höhn. Die einen verzichteten auf schwarz-grüne Gedankenspiele, die anderen gelobten die Abkehr vom grünen "Fundamentalismus", der die parlamentarische Rolle der Grünen in der Opposition gesehen hatte. Damit lieferten die beiden Mehrheitsströmungen ihre Partei auf Gedeih und Verderb den Sozialdemokraten aus. Die Partei wurde zwar "regierungsfähig", verlor jedoch gleichzeitig ihre Handlungsfähigkeit. Der Ausstieg aus der Koalition mit Walter Momper 1990 in Berlin war ihre letzte souveräne Entscheidung. Seitdem entscheiden andere – entweder die SPD, die trotz rechnerischer rot-grüner Mehrheit lieber mit der FDP koalierte, wie 1991 und 1996 in Rheinland-Pfalz, oder die Wählerinnen und Wähler, die Rot-Grün abwählten, wie 1998 in Hessen.

An den Grünen scheiterte Rot-Grün in den vergangenen zehn Jahren nirgendwo – egal, wie schlecht die Koalitionsbedingungen waren. Die Partei hat sich zum bei Bedarf von der SPD zu aktivierenden Mehrheitsbeschaffer für sozialdemokratische Ministerpräsidenten und Bundeskanzler transformiert. "An der Regierung hat sich die grüne Partei zur Unkenntlichkeit, ihre Regierungsmannschaft aber zur Kenntlichkeit verändert", konstatiert Micha Brumlik in der "taz". Als Beleg hierfür muss nicht einmal der Angriffskrieg gegen Jugoslawien angeführt werden – die Verkehrspolitik reicht: Während in Berlin Fraktionschef Rezzo Schlauch öffentlich das einst verteufelte Auto als neues grünes Lustobjekt entdeckt, beugen sich in Düsseldorf die grünen Unterhändler der Clementschen Autobahn- und Flughafenausbauwut.

Es mache Sinn, dass die Signale allerorten auf sozialliberale Koalitionen zeigten, so Brumlik. Denn im Bund und künftig in NRW werde "gar nichts anderes exekutiert werden, als eine sozialliberale Politik reinsten Wasser, nur dass die Grünen – einst eine wertkonservative und linke Partei – hier einen Part spielen, der weder ihrer Basis noch ihren Überzeugungen" entspricht. Sein blumig formuliertes und doch bitter ernstes Fazit: "Am Ende wird die Partei in Land und Bund all ihr Blut verloren haben und als wertloses Bündel, bar jeder Lebenskraft verbleichen."

Die Wählerinnen und Wähler wenden sich jetzt schon mit Grauen ab. Die letzten dreizehn Wahlen haben die Grünen in Folge verloren. Der Abwärtstrend ist dramatisch. So verlor die Partei bei der Landtagswahl in NRW über 300000 Stimmen gegenüber der Wahl von 1995 – ein Verlust von über 37% der bisherigen Wählerschaft. Das ist nicht nur ein "Vermittlungsproblem", wie führende Grüne sowohl in Nordrhein-Westfalen als auch auf Bundesebene immer wieder gebetsmühlenartig behaupten. Es seien Stimmungen, Protesthaltungen, das Lebensgefühl einer Generation und die Hoffnung auf substanzielle Veränderungen gewesen, die die Grünen in die Parlamente brachte, "und nicht die eine oder andere gut gestrickte Novelle zum Steuerrecht", so Brumlik in der "taz". Die Grünen gründeten sich einst in scharfer Opposition zur Beton-SPD Helmut Schmidts, nun regieren sie mit dessen politischen Enkeln Schröder im Bund und Clement in NRW. Und sie unterstützen heute in Wort und Tat eine Politik, die sie in früheren Jahren vehement bekämpften. Als Hoffnungsträger gesellschaftlicher Veränderung haben sie ausgedient, Sinn macht ihre Existenz noch als Funktionspartei für die SPD – womit es allerdings schnell vorbei sein könnte, wenn sich die FDP wie in Rheinland-Pfalz und in NRW wieder rot-gelben Bündnissen öffnet.

Rheinischer Realismus

"Wenn statt sozial-ökologischer Reform Grüne in entscheidenden Fragen den Rückschritt verantworten müssen, ist es an der Zeit, die Konsequenzen zu ziehen" – das fordern inzwischen in Nordrhein-Westfalen nicht einige aus Jutta Ditfurths Zeiten Übriggebliebene in irgendeinem versteckten fundamentalistischen Biotop, sondern ausgerechnet Realos. Der Kreis um die Kölner Stadtratsfraktionssprecherin Barbara Moritz, ihren Stellvertreter Jörg Frank und den Kreissprecher der Grünen in Köln Stefan Pfeil sieht die Grünen an einem Scheideweg. In einem Offenen Brief plädierten die rheinischen Realos vor dem Landesparteitag der nordrhein-westfälischen Grünen Mitte Juni in Bonn für einen Ausstieg aus Rot-Grün an Rhein und Ruhr. Die Partei drohe zu einer historischen Episode zu werden, befürchten sie: "Ein verwaschenes Profil, Kleinmut gegenüber einer macht arroganten und verfilzten NRW-SPD, schwindendes Selbstbewusst sein und die verlorene Aufmüpfigkeit und Angriffslust früherer Tage strahlen nicht gerade Attraktivität und Glaubwürdigkeit aus." Die Grünen müssten sich endlich "aus der babylonischen Gefangenschaft der SPD lösen", fordern die Autoren. Sie bräuchten niemandem mehr zu beweisen, dass sie eine Regierungspartei sind. Aber den Wählern und der Öffentlichkeit müssten sie "offensichtlich beweisen, dass wir auch wieder zur Opposition fähig sind, wenn dies politisch geboten ist". Auch in NRW gebe es für die Grünen "mehr als eine Option". Sie hätten nur "eine Chance als unabhängige, innovative, kritische und klar konturierte Kraft".

Die Kölner wissen, wovon sie schreiben: Im Stadtrat kooperierten diese Grünen Anfang der vergangenen Legislaturperiode mit der SPD, gingen dann wegen gebrochener Versprechen der Sozialdemokraten in die Opposition und arbeiten zur Zeit mit der CDU zusammen. Ganz gegen den Trend ist der mitgliederstärkste grüne Kreisverband in der Bundesrepublik auch bei Wahlen erfolgreich: Er erzielte bei der Kommunalwahl im Herbst 1999 ein Rekordergebnis von fast 16%, und ihre Oberbürgermeisterkandidatin Anne Lütkes erhielt in der Stichwahl gegen den CDU-Kandidaten über 45%. Im März berief die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis sie zu ihrer Stellvertreterin und neuen Justizministerin.

Es sieht allerdings nicht danach aus, als habe der Vorstoß der rheinischen Realos für eine neue grüne Strategiedebatte tatsächlich eine Chance. Die Grünen in NRW und auch im Bund jedenfalls scheinen auf bessere Zeiten einfach warten zu wollen. Bis dahin reden sie sich die schlechten Verhältnisse schön. Oder war es vielleicht Münteferings Schnaps, der die neue alte grüne Umweltministerin Bärbel Höhn den ausgehandelten Koalitionsvertrag als "inhaltlich sehr gut" bezeichnen ließ? Ihre Hoffnung auf einen "gemeinsamen Neuanfang" mit Wolfgang Clement dürfte sich recht bald als Illusion erweisen.

"Ab heute sind die Grünen keine Regierungspartei mehr. Entweder sie fliegen raus, oder sie hören auf, Grüne zu sein", hatte am Landtagswahlabend der nordrhein-westfälische Alt-Liberale Burkhard Hirsch prognostiziert. Er könnte recht behalten.


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