„Paris - Madrid - Hannover"
Die SchülerInnenbewegung 1987 und die Enquete-Kommission


Von Pascal Beucker

 

Veröffentlicht in: In der deutschen Bildungsspirale. Kritisches und Alternatives zur Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Bildung 2000". Herausgegeben von Werner Rügemer im Auftrag des Arbeitskreises "Bildung 2002" und der Stiftung Buntstift e.V., Verlag Demokratie, Dialektik & Ästhetik, Köln 1991. ISBN: 978-3-926290-07-6.

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"Habe noch zureichende Erinnerungen an die furchtbare Schulzeit. So lange diese auch her ist, hier gibt es, wie Ihr erbittertes Vorhaben zeigt, eine Wiederkehr des Gleichen. Das endlich bestandene Abitur war damals die Befreiung aus dem Zuchthaus - ‚vor uns den Tag und hinter uns die Nacht'. Ihrem Aufbegehren ... meine Besen-Wünsche kontra viel unausgestorbenen Unrat."

Grußtelegramm Ernst Blochs an den ersten bundesweiten SchülerInnenkongreß am 18.6.1967 in Frankurt/M.1

Als die Enquete-Kommission am 9.12.87 eingerichtet wurde, ging dem die größte SchülerInnenbewegung voraus, die die Bundesrepublik bis dahin erlebt hatte. "Es gibt Schüler, die machen jetzt nicht mehr mit!" war eine Parole der APO-SchülerInnen Ende der 60er Jahre2 gewesen; Anfang/Mitte 1987 machten sich die Schülerinnen und Schüler diese wieder zu eigen und demonstrierten zu Hunderttausenden gegen eine konservative Reformierung der gymnasialen Oberstufe und für eine schülerInnengerechte Schule.

Diese Proteste gaben den Anstoß für die Initiative von SPD und Grünen zur Einrichtung der EK. Es war der Versuch der "angepaßt-betrogenen parteipolitischen Verlierer"3, im Fahrwasser der durch die SchülerInnenbewegung ausgelösten größeren öffentlichen Diskussion wieder eine offensive Position in der Bildungspolitik zu gewinnen - nachdem in der sog. "Abi-Deform"-Auseinandersetzung CDU/CSU weitgehend ihre Vorstellungen von einem "qualifizierten deutschen Abitur" durchsetzen und weder SPD noch Grüne besondere Gegenwehr entwickeln konnten.

Die Kommission hätte einen positiven Effekt für die bildungspolitische Diskussion haben können, hätte sie den gesamten Bildungsbereich - also auch die allgemeinbildenden öffentlichen Schulen - umfasst, und wären die Forderungen von SchülerInnen und auch StudentInnen aufgenommen worden. Hierfür wäre allerdings auch eine andere - konfliktorientierte - Herangehensweise der Oppositionsparteien notwendig gewesen. Stattdessen ist ein Schlußbericht herausgekommen, der nur in Teilbereichen der Minderheitsvoten eine weitergehende Reformperspektive erkennen läßt und an vielen Stellen nur Nebulöses verbreitet Und dies war wohl auch zwecks Konsensbildung so beabsichtigt: "Der Enquete-Kommission ist es trotz der unterschiedlichen Voten gelungen, wenn auch auf relativ hohem Abstraktionsniveau, eine Reihe von Konsensen zu formulieren" , so Eckard Kuhlwein, SPD, in seinem Vorwort zum Schlußbericht (SB, 5). Diese Konsense "auf relativ hohem Abstraktionsniveau" bewegen sich dann auf der Ebene von: "Bildung und Ausbildung werden immer wichtiger" oder "Die Anstrengungen, aufeinander abgestimmte inhaltliche Reformen im Bildungswesen durchzusetzen, müssen intensiviert werden" (SB, 5 und 10). In dem Kommissionsbericht tauchen die von Bildungspolitik Hauptbetroffenen - SchülerInnen und StudentInnen - höchstens am Rande auf. Sie sind dem "hohen Abstraktionsniveau" zum Opfer gefallen. Desto wichtiger ist es jedoch, die SchülerInnenbewegung, die den Anlaß zur Bildung der EK gab, aus der Vergessenheit zurückzuholen.

SchülerInnen-Proteste gegen "Abi-Deform"

Ausgangspunkt der SchülerInnenproteste 1987 war ein Vorstoß der CDU/CSU-regierten Bundesländer zur Veränderung der gymnasialen Oberstufe zum Zwecke einer angeblichen Erhöhung der "Studierfähigkeit" der AbiturientInnen. Kernpunkte waren die Aufwertung der traditionellen Auslesefächer Mathematik, Deutsch und Fremdsprachen ebenso wie von Geschichte durch Belegungsverpflichtungen und einer damit verbundenen weiteren Einschränkung der Fächer-Wahlfreiheit, eine Abwertung der Leistungs- gegenüber den Grundkursen in der Punktewertung von 3:1 auf 2:1, eine Neuverhandlung über die "Einheitlichen Prüfungsanforderungen" (EPA) mit dem Ziel der Festschreibung verbindlicher "Mindestinhalte", Verlängerung des Zeitraumes bis zum Abschluß an Kollegschulen (Schulen, die Abitur und praktische Berufsausbildung verbinden) von drei auf vier Jahre.

Die Pläne - die SchülerInnen prägten dafür den Begriff "Abi-Deform" -, die die CDU/CSU-Kultusminister auf der Kultusministerkonferenz (KMK) am 5./6.2.87 erstmalig vorlegten, stießen auf unerwartet großen Widerstand. Die geplante "Abi-Deform" brachte ein Faß zum Überlaufen und hunderttausende von Schülerinnen und Schülern auf die Straße. Zwar war der zentrale Bezugspunkt der Bewegung die Verhinderung der "Abi-Deform", doch wies ihr Protest darüber hinaus. Die SchülerInnen nahmen die "Abi-Deform" zum Anlaß einer generellen Hinterfragung ihrer schulischen Situation und stellten fest, daß auch schon der bestehende Zustand von Schule nicht zu Euphorie verleitet. Sie stellten der realexistierenden Schule und der geplanten "Abi-Deform" ihre Ansprüche einer schülerInnengerechten Schule entgegen, die unter anderem eine radikale Demokratisierung des Schulbetriebs, eine ausreichende materielle Absicherung (elternunabhängiges SchülerInnen-BAFöG), solidarische Lernformen in einem kollektiven Schulsystem (eine weiterentwickelte integrierte Gesamtschule als Regelschule; Integration von beruflicher und allgemeiner Bildung) beinhalteten.4

Die SchülerInnenbewegung nahm ihren Anfang am 12.3.87 in Hannover. 15.000 niedersächsische SchülerInnen demonstrierten unter dem Motto "Paris - Madrid - Hannover"5 sowohl gegen die geplanten bundesweiten Verschlechterungen als auch gegen eine niedersächsische Oberstufen-"Reform". Sie kostete dem dortigen CDU-Kultusminister Oschatz den Kopf: "Schülerproteste - der Minister warf hin" titelte die BILD-Zeitung. Die Proteste weiteten sich in Windeseile auf die gesamte Republik aus und fanden ihren Höhepunkt in dem ersten bundesweiten Schulstreik am 11.6.87, von dem rund 1.000 Schulen betroffen waren.

Die Proteste, die das Thema Bildungspolitik wieder in die öffentliche Diskussion zurückholten, konnten eine schnelle Einigung der Kultusminister verhindern. Nach zwei gescheiterten Konferenzen am 2.4.87 in Saarbrücken und am 12.6.87 in Dortmund, die von den SchülerInnen mit Aktionen in etlichen Städten und auch vor den Sitzungssälen der KMK begleitet wurden, verständigten sich die Kultusminister auf einer kurzfristig angesetzten "Geheimkonferenz" am 1.10.87 auf einen "Kompromiß". Die SPD, die zu keinem Zeitpunkt mehr als ein Rückzugsgefecht geführt hatte, stimmte einer Veränderung der gymnasialen Oberstufe auf der Grundlage der CDU/CSU-Vorlage zu. Die Abstriche, die die CDU/CSU-Minister gegenüber ihrem ursprünglichen Antrag machten, waren minimal, reichten allerdings für die SPD noch gerade aus, um ihr Gesicht zu wahren. So schluckte die SPD die Verlängerung des Kollegschulbesuches, erreichte jedoch die Anerkennung der Kollegschulabschlüsse durch die CDU/CSU-regierten Länder - unter der Bedingung, daß die Zugangsberechtigung die vorherige Erlangung der "gymnasialen Oberstufenreife" zur Voraussetzung hat.

Die Einigung hinter verschlossenen Türen wirkte auf die protestierenden SchülerInnen demoralisierend und konnte einer weiteren Ausweitung der Proteste entgegenwirken, da sie ihnen den Hauptangriffspunkt nahm. Dies war auch im Interesse der SPD-Minister gewesen, da sich die Proteste zunehmend gegen die herrschende Bildungspolitik in allen Bundesländern richteten - also auch gegen die SPD. Der nordrhein-westfälische Kultusminister Schwier mußte das am eigenen Leibe erfahren: Auf dem Protestfest der BundesschülerInnenvertretung (BSV) am Rande der Dortmunder KMK stellte er sich der Diskussion mit den SchülerInnen und erntete neben Pfiffen und Buhrufen auch Farbeier, die ihm eine für ihn unpassende rote Färbung verpaßten.

Die Strategie, direkt nach der Sommerpause die "Abi-Deform" unter Dach und Fach zu bringen, ging auf; die Proteste hatten ihren zentralen bundesweiten Bezugspunkt verloren und bröckelten rapide ab. An der gemeinsam von den Vereinigten Deutschen StudentInnenschaften (VDS), der Gewerkschaft Erziehung & Wissenschaft (GEW) und der BSV veranstalteten bundesweiten Demonstration "Aufbruch statt Abbruch - Chancengleichheit und Bildung für alle" Ende November '87 in Bonn beteiligten sich nur noch wenige SchülerInnen, zudem fielen auch noch eigene weitergehende inhaltliche Ansätze der SchülerInnen zugunsten des bündnispolitisch beliebten "kleinsten gemeinsamen Nenners" unter den Tisch.6 Die endgültige Absegnung, die auf der KMK am 3./4.12.87 in Westberlin erfolgte, war dann nur noch Formsache. Welchen Respekt sich die protestierenden SchülerInnen gleichzeitig verschafft hatten, zeigte sich jedoch am Baden-Württembergischen Kultusminister Mayer-Vorfelder, der sich genötigt sah, an alle OberstufenschülerInnen in seinem Bundesland ein Schreiben zu verteilen, in dem er über die Einigung informierte, da sie "in dieser für sie wichtigen Sache Information aus erster Hand" erhalten sollten. Er erklärte dieses - nicht nur für einen CDU-Minister unübliche - Vorgehen damit, "daß die Schüler oftmals nur sehr unzureichend über die Auswirkungen für Baden-Württemberg informiert sind. Man habe sogar manchmal den Eindruck gehabt, daß unter dem Stichwort 'Abi-Deform' eher Desinformation betrieben worden sei".7

Kollektivität der privilegierten EinzelkämpferInnen

"Worum geht es? Um mein Abitur!" antworteten viele SchülerInnen unverblümt. Subjektive, partikulare Interessen und die eigene Angst des Scheiterns vor der Hürde Abitur bildeten die Hauptmotivation des Protestes. Die "Deform" des Abiturs und das dahinterstehende Elitebildungskonzept stießen gerade bei denen auf Widerstand, aus deren Mitte (bzw. Leistungsspitze) die "Elite" rekrutiert werden sollte. Eine intuitive Standessolidarität drängte die EinzelkämpferInnen um Noten und Punkte zur gemeinsamen politischen Aktion, zu sehr waren die Begriffe "Elitebildung" und "Auslese" auch in ihrem Bewußtsein miteinander verknüpft. "Abi-Deform" veranschaulichte vielen den illusionären Charakter ihrer Hoffnung auf individuelles "Durchkommen". In einer Schule, in der das Prinzip des "Jeder gegen jeden" noch weiter auf die Spitze getrieben werden soll, muß schließlich jede/r um ihre/seine Zugehörigkeit zur Spitze bangen. So fühlten sich die potentiellen AbiturientInnen in ihrer Gesamtheit bedroht, nicht nur die "schlechteren" unter ihnen. Die Differenzierung der privilegierten GymnasiastInnen wurde von ihnen als Bedrohung der inneren "Chancengleichheit" begriffen. Gleichzeitig bildete dieser beschränkte Ausgangspunkt einen der Gründe, warum sich die "Abi-Deform"-Bewegung nicht zu einer breiteren, auch Haupt-, Real- und BerufsschülerInnen einbeziehenden Jugendbewegung weiterentwickeln konnte, obwohl es dazu etliche inhaltliche Ansatzpunkte gegeben hätte.

Weitergehende Ansätze

Die Proteste zeigten zumindest in Ansätzen antiautoritäre Züge. Im Bestreben nach Aktion entlud sich angestauter Frust gegenüber der Institution Schule und ihren RepräsentantInnen. Das Element der 'Lust an der Revolte" spielte eine wichtige Rolle. Letztlich war "Abi-Deform" (der Begriff "Deform" war eigentlich unzutreffend, setzte ei doch ein vor dieser Maßnahme funktionierendes Etwas voraus) nur ein Auslöser. Im Kampf gegen die "Abi-Deform" kulminierte eine allgemeine Unzufriedenheit mit den Leistungsanforderungen und der Lustfeindlichkeit des realexistierenden Schulsystems.

Nicht umsonst war die verbreiteste Aktionsform der Streik, der neben den Elementen der Solidarisierung zunächst einmal das Fernbleiben vom Unterricht bedeutet - wenn auch mit einer anderen Qualität als das individuelle "Blaumachen". Wenn die CDU-Nachwuchsorganisation Schüler-Union der BundesschülerInnenvertretung unterstellte, sie hätte nach dem Motto "Gaudi statt Penne" eine "Rattenfängerpolitik" betrieben, ging sie zwar an der Politik der BSV zielsicher vorbei, die Motivation vieler Schülerinnen und Schüler traf sie dennoch genau. Die Unlust gegenüber der bestehenden Schule wirkte sich auch auf die Inhalte der Bewegung aus; obwohl der vorrangige Punkt die Verhinderung der "Abi-Deform" war, formulierten sich in den Protesten perspektivische Forderungen, die die Institution Schule in ihrer bestehenden Verfassung tiefgehend in Frage stellten.

So schrieben zum Beispiel die Grün/Alternativen in der BSV: "Es muß klar sein: Es geht uns nicht um den Erhalt des schulischen Status Quo. In der derzeitigen Auseinandersetzung kommt es daher darauf an, eigene - weiterreichende - Inhalte zu formulieren und damit die Abwehr inhaltlich zu politisieren. Aus dem Gegensatz zwischen den Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler von Schule und ihrem realexistierenden Pendant kann sich der Ansatz zu einer bildungspolitischen Offensive ergeben. Hierbei kommt folgenden drei Punkten zentrale Bedeutung zu: 1. Einer der wichtigsten perspektivischen Gedanken ist die Abschaffung des Noten- und Prüfungssystems. Notenverhältnisse sind Herrschaftsverhältnisse, und nur unter herrschaftsfreien Bedingungen ist wirkliches Lernen möglich. 2. Wir wollen keine pseudodemokratische Mitbestimmung, die den Schülerinnen und Schülern (manchmal) zugestanden wird, um den Entscheidungen über die "Verhandlungsmasse Schüler" eine Legitimationsfassade zu geben. So wichtig die Forderung nach Mitbestimmung auch für uns im Moment ist - solange den Schülerinnen und Schülern diese noch nicht mal vollständig und überall zugestanden wird -, unser Ziel bleibt jedoch die Selbstbestimmung der SchülerInnen ohne (künstliche) Autoritäten und Entscheidungen, die andere für sie treffen. 3. Wir wollen nicht einsehen, daß Schule keinen Spaß machen kann, auch wenn man versucht hat, uns dieses Vorstellungsvermögen von klein auf abzuerziehen. Es wird und wurde uns gelehrt, daß unsere Wünsche und Träume in der Schule nichts verloren hätten. Das ist in der herrschenden Logik ja auch nur konsequent: In einer Gesellschaft, in der Leben und Arbeiten entfremdet sind, darf Lernen keinen Spaß machen. Wir allerdings wollen diese herrschende Logik brechen, wir wollen eine Vereinigung von Leben, Lust und Lernen. "8

Anders als die französische OberschülerInnen- und Studierendenbewegung, die mit ihren Protesten gegen eine Gesetzesvorlage der damaligen konservativen Chirac-Regierung Ende 1986 den dafür zuständigen Minister Devaquet stürzen konnten, hatte die bundesdeutsche Bewegung ihre Proteste nicht als "unpolitisch" begriffen. Appellierten die französischen OberschülerInnen "höflich" - unter Berufung auf die französische Tradition der "Gleichheit" - an die Regierung (zumindest bis zum Tod von Malik Oussekine9), formierte sich in der BRD der Protest deutlicher als politische Bewegung gegen einen politischen Gegner. Zu einem stärker politischen Selbstverständnis der Bewegung hatten die damals noch funktionierenden Jugend- und SchülerInnenstrukturen politischer Verbände maßgeblich beigetragen. Die linken Jugendverbände in der BRD waren anders als in Frankreich nicht von der spontanen Bewegung, die sich zuerst an ihnen vorbei entwickelt hatte, vollständig überrascht und abgehängt worden. Die organisierte SchülerInnen-Linke konnte orientierend auf die Bewegung einwirken und unterstütze die Proteste mit ihren organisatorischen Apparaten. Zu der Größe der Bewegung trugen die damals noch vorhandenen Mobilisierungskapazitäten von Jusos, SDAJ und Grün/Alternativen sowie deren VertreterInnen in den LandesschülerInnenvertretungen und der BundesschülerInnenvertretung bei. Die BSV hatte - vielleicht das erste Mal in ihrer bis zu diesem Zeitpunkt 3 1/2-jährigen Geschichte - ihren Sinn als Dachverband bewiesen, gerade in ihrer Konstruktion als Bündnis politischer Kräfte. Die SchülerInnenbewegung behielt jedoch trotz des Einflusses der Jugendverbände ihren eigenständigen Charakter und Ansatz.10

Nachwirkungen

Auch wenn die SchülerInnenbewegung von 1987 nach rund einem dreiviertel Jahr zusammenbrach, wirkt sie bis heute. So waren an der StudentInnenbewegung des Wintersemsters 1988/89 gerade StudentInnen der ersten Semester beteiligt, die ihre ersten "Kampferfahrungen" während des "Abi-Deform"Protests gesammelt hatten. Das Erleben, daß ihre Ansprüche nach angemessener Bildung und Ausbildung auch an der Hochschule weit von der Verwirklichung entfernt sind, führte sie zu erneutem Aufbegehren. Es ist kein Zufall, daß etliche Strukturmerkmale der beiden Protestbewegungen (Dezentralität, Spontaneität) deutliche Parallelen aufwiesen.11

Beide Bewegungen haben noch eine andere Parallele: Sie brachen in Zeiten aus, zu denen niemand mit ihnen gerechnet hatte und widerlegten das in den Achtzigern in Mode gekommene Lamentieren über die angepaßten und passiven Jugendlichen. Sowohl die SchülerInnenbewegung des Jahres 1987 als auch die StudentInnenbewegung '88/89 nötigen zu einer differenzierteren Sichtweise. In beiden Bewegungen spielten gesellschaftliche Utopien eine marginale Rolle, der Veränderungsansatz beschränkte sich auf das jeweilige Kampffeld: die Schule bzw. Hochschule. Hier formulierten sich jedoch durchaus radikale Ansprüche an ein emanzipatorisches Bildungssystem, die zu einer Hinterfragung der bestehenden Institutionen Schule und Hochschule führten. Die Auseinandersetzung mit dem Widerspruch zwischen dem individuellen Lebensentwurf und der Realität der herrschenden Verhältnisse und die daraus resultierende Auflehnung führte zu einer Politisierung.

Die Bilder von der angepaßten, passiven und von der rebellierenden Jugend sind zwei Gesichter einer Medaille: Es sind Ausdrucksformen des Versuches, individuelle Lebensansprüche in dieser Gesellschaft zu verwirklichen.12 Linke Politik muß den Ansatz haben, ein Bewußtsein dafür zu schaffen, daß diese individuellen Lebensansprüche kollektiv tatsächlich nur durch eine tiefgreifende Veränderung der bestehenden Verhältnisse zu verwirklichen sind.

Defizite linker Pädagogik

Daß Schülerinnen und Schüler eigenständig Ansprüche formulieren, wie eine Schule nach ihren Vorstellungen aussehen sollte, scheint für BildungspolitikerInnen und PädogogInnen jedweder Couleur immer noch befremdlich zu sein.13 Dies ist nicht nur ein Phänomen konservativer Bildungspolitik. Wenn Mayer-Vorfelder während der "Abi-Deform"-Proteste auf die Forderung, daß SchülerInnen in der KMK mitdiskutieren sollten, verkündete: "Das ist natürlich nicht vorstellbar, daß wir da drin diskutieren und ihr da dumm rumsteht und jeden unserer Diskussionsbeiträge kommentiert ... weil das eben nicht meine Vorstellung von einer sachlichen Diskussion ist"14, dokumentierte er damit nur unverblümt eine Haltung, die auch bei SPD- oder GRÜNEN-BildungspolitikerInnen anzutreffen ist, dort jedoch nicht so demonstrativ zur Schau gestellt wird.

So ist es auch kein Versehen, daß zu den ExpertInnen-Anhörungen der EK weder die Selbstorganisation der Studierenden des Zweiten Bildungsweges noch die BundesschülerInnenvertretung, in der auch die SchülerInnen von Berufsschulen und eines Teils der Kollegschulen organisiert sind, eingeladen worden sind, obwohl SPD und Grüne dies hätten leicht durchsetzen können. Eines der zentralen Probleme auch linker bildungspolitischer Diskussionen ist, daß SchülerInnen zwar die maßgeblich Betroffenen von schulischen Veränderungen sind, trotzdem vollständig über ihre Köpfe hinweg debattiert wird. "Linke" PädogigInnen begeben sich dabei gerne in eine Stellvertreterpose: Sie formulieren "im Sinne" der SchülerInnen, was sie für die SchülerInnen "am besten" halten - und was am besten in ihre Politikkonzeption paßt.

Es ist auffällig, daß im Abschlußbericht der Kommission sowohl in den Mehrheits- als auch in den Minderheitsvoten immer nur abstrakt von "dem Bildungswesen", "dem Bildungssystem", "der Bildungspolitik" etc. fabuliert wird, die - schon allein quantitativ - Hauptbetroffenen, SchülerInnen und Studierende, aber weitgehend nicht auftauchen. So verschwanden auch bei den sich selbst so nennenden Linken in der EK die unter den bestehenden Verhältnissen am meisten Leidtragenden bzw. diejenigen, die die Reformvorstellungen von SPD und Grünen am intensivsten am eigenen Leibe zu spüren bekämen, würden diese zur Realität. Hier findet eine Entsubjektivierung statt, die zwar konstituierendes Element kapitalistischer Verwertungslogik ist, eine ernanzipatorische Perspektive jedoch verunmöglicht, da diese von den Menschen und nicht abstrakt von der Institution ausgehen muß. Zumindest von den GRÜNEN hätte von ihrem eigenen Anspruch her etwas anderes erwartet werden dürfen.

Es geht nur mit den SchülerInnen zusammen

Eine schülerInnengerechte Schule wird nur zusammen mit den SchülerInnen entwickelt werden können. Gegenwärtig scheint allerdings die linke Bildungsdiskussion dominiert zu sein von den Befindlichkeiten frustrierter 68er-PädagigInnen, die ihr eigenes (verständliches) Unwohlsein im Schulbetrieb zu dem Maßstab der Betrachtung machen. Dabei blenden sie vielfach die Situation der SchülerInnen, die nun mal der schwächste Teil des Systems sind, aus oder gehen von einer - real nicht vorhandenen - Interessensidentität aus, wodurch sich die Einbeziehung von SchülerInnen in die Diskussion für sie erübrigt. Die Konsequenz ist klar: Die Diskussion wird schnell - gerade dies ist bei den GRÜNEN gut sichtbar15 - entweder zu einer pseudowissenschaftlichen Theoriediskussion ohne jeglichen praktisch-politischen Bezug oder zu "Realpolitik", die sich nur noch am Bestehenden orientiert und nicht mehr als einen - etwas fortschrittlicheren - Abklatsch der gegenwärtigen Bildungspolitik darstellt.

Eine progressive Wende in Richtung radikaler Demokratisierung der Schule, Selbstbestimmung der Individuen, eines Unterrichts, der sich an ökologischen und feministischen Prinzipien orientiert usw., wird so nicht erreichbar sein. Eine Bildungsreform, die sich wie vor zwanzig Jahren allein auf BildungstheoretikerInnen, -verwalterInnen und beamtete PädagogInnen verläßt, ist schon von ihrem Ansatz her zum Scheitern verurteilt. Notwendig wäre stattdessen ein umfassender und radikaler Diskussionsprozeß zwischen allen Beteiligten mit dem Ziel der Herausbildung einer gemeinsamen konkreten Utopie von Bildung, die dem herrschenden Mainstream entgegengesetzt werden kann.

 

1) Zitiert nach: Haug/Maessen: Was wollen die Schüler? Frankfurt 1969, S. 40.
2) Gründungsaufruf des Aktionszentrums Unabhängiger und Sozialistischer Schüler (AUSS), in: G. Amendt (Hrg.): Kinderkreuzzug oder beginnt die Revolution an den Schulen? Hamburg 1968, S. 97.
3) W. Rügemer: Modernisiertes Modell des Nürnberger Trichters. Zur Enquete-Kommission "Bildung 2000", taz 30.10.1990.
4) Vgl. KB-Jugend u.a.: "Abi-Deform, Bildungspolitik & SchülerInnenbewegung", Materialsammlung, Hamburg, Juni 1988.
5) In Frankreich und in Spanien gab es Ende ‚86/Anfang ‚87 massenhafte SchülerInnenproteste, die auch in der BRD motivierend und mobilisierend wirkten. Mit dem Motto "Paris-Madrid-Hannover" wollten die SchülerInnen die Einbettung in eine internationale SchülerInnenbewegung zum Ausdruck bringen. Zu den Protesten in Spanien und Frankreich siehe: AStA Uni Köln/Wissenschaftsreferat: "Frankreich, Spanien ...", Materialien zur Wissenschaftskritik & Hochschulreform Nr. 5, Juni 1987.
6) Vgl. J. Devries: Leben vor dem Abitur - SchülerInnen 1988, in: päd. extra & demokratische erziehung 3/88, S. 37f.
7) Pressemitteilung des Ministeriums für Kultus und Sport Baden-Württemberg vom 14.10.1987.
8) Grün/Alternative & Jungdemokraten in der Bundesschülervertretung: Vom Protest zur Revolte? Positionspapier, in: BSV-Infodienst 5-64987, S. 18ff.
9) Der 22jährige Student Malik Oussekine wurde am 5.12.86 während einer Demonstration von der französischen Polizei getötet. Am 6.12. erklärte Devaquet seinen Rücktritt und vor dem Hintergrund eines für den 10. 12. angekündigten Generalstreiks zog Chirac am 8.12. die Gesetzesvorlage zurück.
10) Vgl. B. Wichmann: Den Stein ins Rollen gebracht, in: Marxistische Blätter 7/8-87, S. 43ff.
11) Vgl. P. Beucker: Die Karten werden neu gemischt. Die "Neue Studentlnnenbewegung" und die organisierte Hochschullinke, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1/90, S. 74ff.
12) Vgl. 0. Berg: Wende oder Protest - zwei Gesichter der selben Jugend, in: Grüne Illustrierte Niedersachsen 1- /88, S. 8f.
13) Auch ausformulierte eigene Entwürfe von Schülerlinnen wurden und werden hier kaum wahrgenommen. Ein Beispiel dafür ist das am 1.6.86 von der LandesschülerInnenvertretung NRW beschlossene Grundsatzpapier "Für eine Umorientierung der Bildungspolitik", in dem versucht wurde, eine konkrete Schulutopie zu entwickeln.
14) Nachdem Mayer-Vorfelders Dienstwagen vor dem Eingang zum Tagungsort der KMK am 2.4.87 in Saarbrücken durch eine Sitzblockade gestoppt wurde, mußte er sich der Diskussion mit den protestierenden Schülerinnen stellen. Das Zitat stammt aus einem Tonbandmitschnitt dieser Diskussion, der im BSV-Infodienst 4/87 veröffentlicht wurde.
15) Bei den GRÜNEN gibt es natürlich auch positive bildungspolitische Ansätze, ein Beispiel hierfür ist das Bildungsprogramm der GRÜNEN NRW zur Landtagswahl '85. Diese bilden jedoch leider Ausnahmen.


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