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Paris
- Madrid - Hannover" Veröffentlicht in: In der deutschen Bildungsspirale. Kritisches und Alternatives zur Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Bildung 2000". Herausgegeben von Werner Rügemer im Auftrag des Arbeitskreises "Bildung 2002" und der Stiftung Buntstift e.V., Verlag Demokratie, Dialektik & Ästhetik, Köln 1991. ISBN: 978-3-926290-07-6. |
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"Habe noch zureichende Erinnerungen an die furchtbare Schulzeit. So lange diese auch her ist, hier gibt es, wie Ihr erbittertes Vorhaben zeigt, eine Wiederkehr des Gleichen. Das endlich bestandene Abitur war damals die Befreiung aus dem Zuchthaus - vor uns den Tag und hinter uns die Nacht'. Ihrem Aufbegehren ... meine Besen-Wünsche kontra viel unausgestorbenen Unrat." Grußtelegramm Ernst Blochs an den ersten bundesweiten SchülerInnenkongreß am 18.6.1967 in Frankurt/M.1 Als die Enquete-Kommission am 9.12.87 eingerichtet wurde, ging dem die größte SchülerInnenbewegung voraus, die die Bundesrepublik bis dahin erlebt hatte. "Es gibt Schüler, die machen jetzt nicht mehr mit!" war eine Parole der APO-SchülerInnen Ende der 60er Jahre2 gewesen; Anfang/Mitte 1987 machten sich die Schülerinnen und Schüler diese wieder zu eigen und demonstrierten zu Hunderttausenden gegen eine konservative Reformierung der gymnasialen Oberstufe und für eine schülerInnengerechte Schule. Diese Proteste gaben den Anstoß für die Initiative von SPD und Grünen zur Einrichtung der EK. Es war der Versuch der "angepaßt-betrogenen parteipolitischen Verlierer" 3, im Fahrwasser der durch die SchülerInnenbewegung ausgelösten größeren öffentlichen Diskussion wieder eine offensive Position in der Bildungspolitik zu gewinnen - nachdem in der sog. "Abi-Deform"-Auseinandersetzung CDU/CSU weitgehend ihre Vorstellungen von einem "qualifizierten deutschen Abitur" durchsetzen und weder SPD noch Grüne besondere Gegenwehr entwickeln konnten.Die Kommission hätte einen positiven Effekt für die bildungspolitische Diskussion haben können, hätte sie den gesamten Bildungsbereich - also auch die allgemeinbildenden öffentlichen Schulen - umfasst, und wären die Forderungen von SchülerInnen und auch StudentInnen aufgenommen worden. Hierfür wäre allerdings auch eine andere - konfliktorientierte - Herangehensweise der Oppositionsparteien notwendig gewesen. Stattdessen ist ein Schlußbericht herausgekommen, der nur in Teilbereichen der Minderheitsvoten eine weitergehende Reformperspektive erkennen läßt und an vielen Stellen nur Nebulöses verbreitet Und dies war wohl auch zwecks Konsensbildung so beabsichtigt: "Der Enquete-Kommission ist es trotz der unterschiedlichen Voten gelungen, wenn auch auf relativ hohem Abstraktionsniveau, eine Reihe von Konsensen zu formulieren" , so Eckard Kuhlwein, SPD, in seinem Vorwort zum Schlußbericht (SB, 5). Diese Konsense "auf relativ hohem Abstraktionsniveau" bewegen sich dann auf der Ebene von: "Bildung und Ausbildung werden immer wichtiger" oder "Die Anstrengungen, aufeinander abgestimmte inhaltliche Reformen im Bildungswesen durchzusetzen, müssen intensiviert werden" (SB, 5 und 10). In dem Kommissionsbericht tauchen die von Bildungspolitik Hauptbetroffenen - SchülerInnen und StudentInnen - höchstens am Rande auf. Sie sind dem "hohen Abstraktionsniveau" zum Opfer gefallen. Desto wichtiger ist es jedoch, die SchülerInnenbewegung, die den Anlaß zur Bildung der EK gab, aus der Vergessenheit zurückzuholen. SchülerInnen-Proteste gegen "Abi-Deform" Ausgangspunkt der SchülerInnenproteste 1987 war ein Vorstoß der CDU/CSU-regierten Bundesländer zur Veränderung der gymnasialen Oberstufe zum Zwecke einer angeblichen Erhöhung der "Studierfähigkeit" der AbiturientInnen. Kernpunkte waren die Aufwertung der traditionellen Auslesefächer Mathematik, Deutsch und Fremdsprachen ebenso wie von Geschichte durch Belegungsverpflichtungen und einer damit verbundenen weiteren Einschränkung der Fächer-Wahlfreiheit, eine Abwertung der Leistungs- gegenüber den Grundkursen in der Punktewertung von 3:1 auf 2:1, eine Neuverhandlung über die "Einheitlichen Prüfungsanforderungen" (EPA) mit dem Ziel der Festschreibung verbindlicher "Mindestinhalte", Verlängerung des Zeitraumes bis zum Abschluß an Kollegschulen (Schulen, die Abitur und praktische Berufsausbildung verbinden) von drei auf vier Jahre. Die Pläne - die SchülerInnen prägten dafür den Begriff "Abi-Deform" -, die die CDU/CSU-Kultusminister auf der Kultusministerkonferenz (KMK) am 5./6.2.87 erstmalig vorlegten, stießen auf unerwartet großen Widerstand. Die geplante "Abi-Deform" brachte ein Faß zum Überlaufen und hunderttausende von Schülerinnen und Schülern auf die Straße. Zwar war der zentrale Bezugspunkt der Bewegung die Verhinderung der "Abi-Deform", doch wies ihr Protest darüber hinaus. Die SchülerInnen nahmen die "Abi-Deform" zum Anlaß einer generellen Hinterfragung ihrer schulischen Situation und stellten fest, daß auch schon der bestehende Zustand von Schule nicht zu Euphorie verleitet. Sie stellten der realexistierenden Schule und der geplanten "Abi-Deform" ihre Ansprüche einer schülerInnengerechten Schule entgegen, die unter anderem eine radikale Demokratisierung des Schulbetriebs, eine ausreichende materielle Absicherung (elternunabhängiges SchülerInnen-BAFöG), solidarische Lernformen in einem kollektiven Schulsystem (eine weiterentwickelte integrierte Gesamtschule als Regelschule; Integration von beruflicher und allgemeiner Bildung) beinhalteten.4 Die SchülerInnenbewegung nahm ihren Anfang am 12.3.87 in Hannover. 15.000 niedersächsische SchülerInnen demonstrierten unter dem Motto "Paris - Madrid - Hannover"5 sowohl gegen die geplanten bundesweiten Verschlechterungen als auch gegen eine niedersächsische Oberstufen-"Reform". Sie kostete dem dortigen CDU-Kultusminister Oschatz den Kopf: "Schülerproteste - der Minister warf hin" titelte die BILD-Zeitung. Die Proteste weiteten sich in Windeseile auf die gesamte Republik aus und fanden ihren Höhepunkt in dem ersten bundesweiten Schulstreik am 11.6.87, von dem rund 1.000 Schulen betroffen waren. Die Proteste, die das Thema Bildungspolitik wieder in die öffentliche Diskussion zurückholten, konnten eine schnelle Einigung der Kultusminister verhindern. Nach zwei gescheiterten Konferenzen am 2.4.87 in Saarbrücken und am 12.6.87 in Dortmund, die von den SchülerInnen mit Aktionen in etlichen Städten und auch vor den Sitzungssälen der KMK begleitet wurden, verständigten sich die Kultusminister auf einer kurzfristig angesetzten "Geheimkonferenz" am 1.10.87 auf einen "Kompromiß". Die SPD, die zu keinem Zeitpunkt mehr als ein Rückzugsgefecht geführt hatte, stimmte einer Veränderung der gymnasialen Oberstufe auf der Grundlage der CDU/CSU-Vorlage zu. Die Abstriche, die die CDU/CSU-Minister gegenüber ihrem ursprünglichen Antrag machten, waren minimal, reichten allerdings für die SPD noch gerade aus, um ihr Gesicht zu wahren. So schluckte die SPD die Verlängerung des Kollegschulbesuches, erreichte jedoch die Anerkennung der Kollegschulabschlüsse durch die CDU/CSU-regierten Länder - unter der Bedingung, daß die Zugangsberechtigung die vorherige Erlangung der "gymnasialen Oberstufenreife" zur Voraussetzung hat. Die Einigung hinter verschlossenen Türen wirkte auf die protestierenden SchülerInnen demoralisierend und konnte einer weiteren Ausweitung der Proteste entgegenwirken, da sie ihnen den Hauptangriffspunkt nahm. Dies war auch im Interesse der SPD-Minister gewesen, da sich die Proteste zunehmend gegen die herrschende Bildungspolitik in allen Bundesländern richteten - also auch gegen die SPD. Der nordrhein-westfälische Kultusminister Schwier mußte das am eigenen Leibe erfahren: Auf dem Protestfest der BundesschülerInnenvertretung (BSV) am Rande der Dortmunder KMK stellte er sich der Diskussion mit den SchülerInnen und erntete neben Pfiffen und Buhrufen auch Farbeier, die ihm eine für ihn unpassende rote Färbung verpaßten. Die Strategie, direkt nach der Sommerpause
die "Abi-Deform" unter Dach und Fach zu
bringen, ging auf; die Proteste hatten ihren zentralen
bundesweiten Bezugspunkt verloren und bröckelten rapide
ab. An der gemeinsam von den Vereinigten Deutschen
StudentInnenschaften (VDS), der Gewerkschaft Erziehung
& Wissenschaft (GEW) und der BSV veranstalteten
bundesweiten Demonstration "Aufbruch statt Abbruch -
Chancengleichheit und Bildung für alle" Ende
November '87 in Bonn beteiligten sich nur noch wenige
SchülerInnen, zudem fielen auch noch eigene
weitergehende inhaltliche Ansätze der SchülerInnen
zugunsten des bündnispolitisch beliebten "kleinsten
gemeinsamen Nenners" unter den Tisch.6
Die endgültige Absegnung, die auf der KMK am 3./4.12.87
in Westberlin erfolgte, war dann nur noch Formsache.
Welchen Respekt sich die protestierenden SchülerInnen
gleichzeitig verschafft hatten, zeigte sich jedoch am
Baden-Württembergischen Kultusminister Mayer-Vorfelder,
der sich genötigt sah, an alle OberstufenschülerInnen
in seinem Bundesland ein Schreiben zu verteilen, in dem
er über die Einigung informierte, da sie "in dieser
für sie wichtigen Sache Information aus erster
Hand" erhalten sollten. Er erklärte dieses - nicht
nur für einen CDU-Minister unübliche - Vorgehen damit,
"daß die Schüler oftmals nur sehr unzureichend
über die Auswirkungen für Baden-Württemberg informiert
sind. Man habe sogar manchmal den Eindruck gehabt, daß
unter dem Stichwort 'Abi-Deform' eher Desinformation
betrieben worden sei".7 Kollektivität der privilegierten
EinzelkämpferInnen "Worum geht es? Um mein Abitur!" antworteten
viele SchülerInnen unverblümt. Subjektive, partikulare
Interessen und die eigene Angst des Scheiterns vor der
Hürde Abitur bildeten die Hauptmotivation des Protestes.
Die "Deform" des Abiturs und das
dahinterstehende Elitebildungskonzept stießen gerade bei
denen auf Widerstand, aus deren Mitte (bzw.
Leistungsspitze) die "Elite" rekrutiert werden
sollte. Eine intuitive Standessolidarität drängte die
EinzelkämpferInnen um Noten und Punkte zur gemeinsamen
politischen Aktion, zu sehr waren die Begriffe
"Elitebildung" und "Auslese" auch in
ihrem Bewußtsein miteinander verknüpft.
"Abi-Deform" veranschaulichte vielen den
illusionären Charakter ihrer Hoffnung auf individuelles
"Durchkommen". In einer Schule, in der das
Prinzip des "Jeder gegen jeden" noch weiter auf
die Spitze getrieben werden soll, muß schließlich
jede/r um ihre/seine Zugehörigkeit zur Spitze bangen. So
fühlten sich die potentiellen AbiturientInnen in ihrer
Gesamtheit bedroht, nicht nur die
"schlechteren" unter ihnen. Die Differenzierung
der privilegierten GymnasiastInnen wurde von ihnen als
Bedrohung der inneren "Chancengleichheit"
begriffen. Gleichzeitig bildete dieser beschränkte
Ausgangspunkt einen der Gründe, warum sich die
"Abi-Deform"-Bewegung nicht zu einer breiteren,
auch Haupt-, Real- und BerufsschülerInnen einbeziehenden
Jugendbewegung weiterentwickeln konnte, obwohl es dazu
etliche inhaltliche Ansatzpunkte gegeben hätte. Weitergehende Ansätze Die Proteste zeigten zumindest in Ansätzen
antiautoritäre Züge. Im Bestreben nach Aktion entlud
sich angestauter Frust gegenüber der Institution Schule
und ihren RepräsentantInnen. Das Element der 'Lust an
der Revolte" spielte eine wichtige Rolle. Letztlich
war "Abi-Deform" (der Begriff
"Deform" war eigentlich unzutreffend, setzte ei
doch ein vor dieser Maßnahme funktionierendes Etwas
voraus) nur ein Auslöser. Im Kampf gegen die
"Abi-Deform" kulminierte eine allgemeine
Unzufriedenheit mit den Leistungsanforderungen und der
Lustfeindlichkeit des realexistierenden Schulsystems. Nicht umsonst war die verbreiteste
Aktionsform der Streik, der neben den Elementen der
Solidarisierung zunächst einmal das Fernbleiben vom
Unterricht bedeutet - wenn auch mit einer anderen
Qualität als das individuelle "Blaumachen".
Wenn die CDU-Nachwuchsorganisation Schüler-Union der
BundesschülerInnenvertretung unterstellte, sie hätte
nach dem Motto "Gaudi statt Penne" eine
"Rattenfängerpolitik" betrieben, ging sie zwar
an der Politik der BSV zielsicher vorbei, die Motivation
vieler Schülerinnen und Schüler traf sie dennoch genau.
Die Unlust gegenüber der bestehenden Schule wirkte sich
auch auf die Inhalte der Bewegung aus; obwohl der
vorrangige Punkt die Verhinderung der
"Abi-Deform" war, formulierten sich in den
Protesten perspektivische Forderungen, die die
Institution Schule in ihrer bestehenden Verfassung
tiefgehend in Frage stellten. So schrieben zum Beispiel die
Grün/Alternativen in der BSV: "Es muß klar sein:
Es geht uns nicht um den Erhalt des schulischen Status
Quo. In der derzeitigen Auseinandersetzung kommt es daher
darauf an, eigene - weiterreichende - Inhalte zu
formulieren und damit die Abwehr inhaltlich zu
politisieren. Aus dem Gegensatz zwischen den
Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler von Schule
und ihrem realexistierenden Pendant kann sich der Ansatz
zu einer bildungspolitischen Offensive ergeben. Hierbei
kommt folgenden drei Punkten zentrale Bedeutung zu: 1.
Einer der wichtigsten perspektivischen Gedanken ist die
Abschaffung des Noten- und Prüfungssystems.
Notenverhältnisse sind Herrschaftsverhältnisse, und nur
unter herrschaftsfreien Bedingungen ist wirkliches Lernen
möglich. 2. Wir wollen keine pseudodemokratische
Mitbestimmung, die den Schülerinnen und Schülern
(manchmal) zugestanden wird, um den Entscheidungen über
die "Verhandlungsmasse Schüler" eine
Legitimationsfassade zu geben. So wichtig die Forderung
nach Mitbestimmung auch für uns im Moment ist - solange
den Schülerinnen und Schülern diese noch nicht mal
vollständig und überall zugestanden wird -, unser Ziel
bleibt jedoch die Selbstbestimmung der SchülerInnen ohne
(künstliche) Autoritäten und Entscheidungen, die andere
für sie treffen. 3. Wir wollen nicht einsehen, daß
Schule keinen Spaß machen kann, auch wenn man versucht
hat, uns dieses Vorstellungsvermögen von klein auf
abzuerziehen. Es wird und wurde uns gelehrt, daß unsere
Wünsche und Träume in der Schule nichts verloren
hätten. Das ist in der herrschenden Logik ja auch nur
konsequent: In einer Gesellschaft, in der Leben und
Arbeiten entfremdet sind, darf Lernen keinen Spaß
machen. Wir allerdings wollen diese herrschende Logik
brechen, wir wollen eine Vereinigung von Leben, Lust und
Lernen. "8 Anders als die französische
OberschülerInnen- und Studierendenbewegung, die mit
ihren Protesten gegen eine Gesetzesvorlage der damaligen
konservativen Chirac-Regierung Ende 1986 den dafür
zuständigen Minister Devaquet stürzen konnten, hatte
die bundesdeutsche Bewegung ihre Proteste nicht als
"unpolitisch" begriffen. Appellierten die
französischen OberschülerInnen "höflich" -
unter Berufung auf die französische Tradition der
"Gleichheit" - an die Regierung (zumindest bis
zum Tod von Malik Oussekine Nachwirkungen Auch wenn die SchülerInnenbewegung von 1987 nach rund einem dreiviertel Jahr zusammenbrach, wirkt sie bis heute. So waren an der StudentInnenbewegung des Wintersemsters 1988/89 gerade StudentInnen der ersten Semester beteiligt, die ihre ersten "Kampferfahrungen" während des "Abi-Deform"Protests gesammelt hatten. Das Erleben, daß ihre Ansprüche nach angemessener Bildung und Ausbildung auch an der Hochschule weit von der Verwirklichung entfernt sind, führte sie zu erneutem Aufbegehren. Es ist kein Zufall, daß etliche Strukturmerkmale der beiden Protestbewegungen (Dezentralität, Spontaneität) deutliche Parallelen aufwiesen.11 Beide Bewegungen haben noch eine andere Parallele: Sie brachen in Zeiten aus, zu denen niemand mit ihnen gerechnet hatte und widerlegten das in den Achtzigern in Mode gekommene Lamentieren über die angepaßten und passiven Jugendlichen. Sowohl die SchülerInnenbewegung des Jahres 1987 als auch die StudentInnenbewegung '88/89 nötigen zu einer differenzierteren Sichtweise. In beiden Bewegungen spielten gesellschaftliche Utopien eine marginale Rolle, der Veränderungsansatz beschränkte sich auf das jeweilige Kampffeld: die Schule bzw. Hochschule. Hier formulierten sich jedoch durchaus radikale Ansprüche an ein emanzipatorisches Bildungssystem, die zu einer Hinterfragung der bestehenden Institutionen Schule und Hochschule führten. Die Auseinandersetzung mit dem Widerspruch zwischen dem individuellen Lebensentwurf und der Realität der herrschenden Verhältnisse und die daraus resultierende Auflehnung führte zu einer Politisierung. Die Bilder von der angepaßten, passiven und von der rebellierenden Jugend sind zwei Gesichter einer Medaille: Es sind Ausdrucksformen des Versuches, individuelle Lebensansprüche in dieser Gesellschaft zu verwirklichen.12 Linke Politik muß den Ansatz haben, ein Bewußtsein dafür zu schaffen, daß diese individuellen Lebensansprüche kollektiv tatsächlich nur durch eine tiefgreifende Veränderung der bestehenden Verhältnisse zu verwirklichen sind. Defizite linker Pädagogik Daß Schülerinnen und Schüler eigenständig Ansprüche
formulieren, wie eine Schule nach ihren Vorstellungen
aussehen sollte, scheint für BildungspolitikerInnen und
PädogogInnen jedweder Couleur immer noch befremdlich zu
sein.13 Dies ist nicht nur ein Phänomen
konservativer Bildungspolitik. Wenn Mayer-Vorfelder
während der "Abi-Deform"-Proteste auf die
Forderung, daß SchülerInnen in der KMK mitdiskutieren
sollten, verkündete: "Das ist natürlich nicht
vorstellbar, daß wir da drin diskutieren und ihr da dumm
rumsteht und jeden unserer Diskussionsbeiträge
kommentiert ... weil das eben nicht meine Vorstellung von
einer sachlichen Diskussion ist"14,
dokumentierte er damit nur unverblümt eine Haltung, die
auch bei SPD- oder GRÜNEN-BildungspolitikerInnen
anzutreffen ist, dort jedoch nicht so demonstrativ zur
Schau gestellt wird. So ist es auch kein Versehen, daß zu den
ExpertInnen-Anhörungen der EK weder die
Selbstorganisation der Studierenden des Zweiten
Bildungsweges noch die BundesschülerInnenvertretung, in
der auch die SchülerInnen von Berufsschulen und eines
Teils der Kollegschulen organisiert sind, eingeladen
worden sind, obwohl SPD und Grüne dies hätten leicht
durchsetzen können. Eines der zentralen Probleme auch
linker bildungspolitischer Diskussionen ist, daß
SchülerInnen zwar die maßgeblich Betroffenen von
schulischen Veränderungen sind, trotzdem vollständig
über ihre Köpfe hinweg debattiert wird.
"Linke" PädogigInnen begeben sich dabei gerne
in eine Stellvertreterpose: Sie formulieren "im
Sinne" der SchülerInnen, was sie für die
SchülerInnen "am besten" halten - und was am
besten in ihre Politikkonzeption paßt. Es ist auffällig, daß im Abschlußbericht
der Kommission sowohl in den Mehrheits- als auch in den
Minderheitsvoten immer nur abstrakt von "dem
Bildungswesen", "dem
Bildungssystem", "der
Bildungspolitik" etc. fabuliert wird, die -
schon allein quantitativ - Hauptbetroffenen,
SchülerInnen und Studierende, aber weitgehend nicht
auftauchen. So verschwanden auch bei den sich selbst so
nennenden Linken in der EK die unter den bestehenden
Verhältnissen am meisten Leidtragenden bzw. diejenigen,
die die Reformvorstellungen von SPD und Grünen am
intensivsten am eigenen Leibe zu spüren bekämen,
würden diese zur Realität. Hier findet eine
Entsubjektivierung statt, die zwar konstituierendes
Element kapitalistischer Verwertungslogik ist, eine
ernanzipatorische Perspektive jedoch verunmöglicht, da
diese von den Menschen und nicht abstrakt von der
Institution ausgehen muß. Zumindest von den GRÜNEN
hätte von ihrem eigenen Anspruch her etwas anderes
erwartet werden dürfen. Es geht nur mit den SchülerInnen
zusammen Eine schülerInnengerechte Schule wird nur zusammen mit
den SchülerInnen entwickelt werden können. Gegenwärtig
scheint allerdings die linke Bildungsdiskussion dominiert
zu sein von den Befindlichkeiten frustrierter
68er-PädagigInnen, die ihr eigenes (verständliches)
Unwohlsein im Schulbetrieb zu dem Maßstab der
Betrachtung machen. Dabei blenden sie vielfach die
Situation der SchülerInnen, die nun mal der schwächste
Teil des Systems sind, aus oder gehen von einer - real
nicht vorhandenen - Interessensidentität aus, wodurch
sich die Einbeziehung von SchülerInnen in die Diskussion
für sie erübrigt. Die Konsequenz ist klar: Die
Diskussion wird schnell - gerade dies ist bei den GRÜNEN
gut sichtbar15 - entweder zu einer
pseudowissenschaftlichen Theoriediskussion ohne jeglichen
praktisch-politischen Bezug oder zu
"Realpolitik", die sich nur noch am Bestehenden
orientiert und nicht mehr als einen - etwas
fortschrittlicheren - Abklatsch der gegenwärtigen
Bildungspolitik darstellt. Eine progressive Wende in Richtung radikaler
Demokratisierung der Schule, Selbstbestimmung der
Individuen, eines Unterrichts, der sich an ökologischen
und feministischen Prinzipien orientiert usw., wird so
nicht erreichbar sein. Eine Bildungsreform, die sich wie
vor zwanzig Jahren allein auf BildungstheoretikerInnen,
-verwalterInnen und beamtete PädagogInnen verläßt, ist
schon von ihrem Ansatz her zum Scheitern verurteilt.
Notwendig wäre stattdessen ein umfassender und radikaler
Diskussionsprozeß zwischen allen Beteiligten mit dem
Ziel der Herausbildung einer gemeinsamen konkreten Utopie
von Bildung, die dem herrschenden Mainstream
entgegengesetzt werden kann. 1) Zitiert nach: Haug/Maessen: Was wollen
die Schüler? Frankfurt 1969, S. 40. |
© Pascal Beucker. Alle Rechte an Inhalt, Gestaltung, Fotos liegen beim Autor. Direkte und indirekte Kopien, sowie die Verwendung von Text und Bild nur mit ausdrücklicher, schriftlicher Genehmigung des Autors. |