die tageszeitung
25.10.2010



Interview mit
Guntram Schneider

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taz
 

 "Integrationspolitik von unten"
Von Pascal Beucker

MIGRANTEN Nordrhein-Westfalens Integrationsminister Guntram Schneider (SPD) wirft der Union Stammtischparolen vor - und ist selbst gegen eine Zuwanderung per Punktesystem.

Guntram Schneidertaz: Welche Erklärung haben Sie für die große Erregung, mit der gegenwärtig in Deutschland über Integration diskutiert wird?

Guntram Schneider: Das hat verschiedene Ursachen. Zum einen geht es um reale Probleme: Die konkrete Integrationspolitik hat viel zu spät eingesetzt, weil die Politik zu lange dem Irrglauben anhing, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Viele in der Union wollen das ja bis heute nicht wahrhaben. Zum anderen wird hier perfide versucht, aus der Diskreditierung gesellschaftlicher Minderheiten politisch Kapital zu schlagen.

Wen meinen Sie damit?

Guntram Schneider: Bei Herrn Seehofer und seiner Partei sieht man  das beispielsweise sehr deutlich. Die meinen, sie müssten den deutschen Stammtisch bedienen, um aus einem politischen Loch herauszukommen. Ich halte es für unverantwortlich, wenn bisherige Integrationserfolge kurzfristigen politischen Profilierungsinteressen geopfert werden.

Laut einer aktuellen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung hält jeder dritte Deutsche sein Land für „überfremdet“. Zeigt sich hier nicht eine weitverbreitete Integrationsverweigerung in der Mehrheitsgesellschaft?

Guntram Schneider: Das ist richtig. Solche Tendenzen gibt es. Es gibt auf der einen Seite zwar immer mehr Mitbürger, die das Interesse und auch die Fähigkeit haben, auf Fremde zuzugehen – das gilt für beide Seiten: in der sogenannten Mehrheitsgesellschaft als auch bei den Menschen mit Migrationshintergrund. Auf der anderen Seite wächst aber auch die Ablehnung bei einem Teil der deutschen Bevölkerung. Dies ist letztendlich ein soziales Problem und hängt mit der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft zusammen. Hier müssen wir entgegenwirken.

Liefern solche Studienergebnisse nicht einen Beleg für die Aussage Angela Merkels, der Ansatz von Multikulti sei „absolut gescheitert“?

Guntram Schneider: Ich kann mit einem solchen Testat nichts anfangen. Wer sagt, Multikulti ist gescheitert, kann auch behaupten, zwei mal zwei ist nicht vier. Wir leben doch in einer multikulturellen Gesellschaft. Schauen Sie mal nach Düsseldorf: Hier sind weit über 130 Nationalitäten zuhause und entsprechend bunt ist auch das Leben. Wie organisieren wir ein möglichst spannungsarmes Zusammenleben sehr unterschiedlicher Menschen? Das ist die Frage, um die es geht. Die Geschäftsgrundlage dafür ist unsere Rechtsordnung und die Verfassung.

Was bedeutet das konkret?

Guntram Schneider: Die Integrationspolitik der rot-grünen Landesregierung hat drei zentrale Elemente: Erstens geht es um Bildung. Ausgehend von den Kindergärten muss sichergestellt sein, dass kein Kind eingeschult wird, das nicht die deutsche Sprache kann. Das ist eine Grundvoraussetzung. Zweitens geht es um Arbeit. Wir müssen mehr für berufliche Qualifizierung tun, damit Menschen mit Migrationshintergrund besser auf dem ersten Arbeitsmarkt Platz finden. Drittens wollen wir die Möglichkeiten an gesellschaftlicher Teilhabe und Beteiligung erhöhen, zum Beispiel über das kommunale Wahlrecht für Nicht-EU-Ausländer. Außerdem wollen wir die Übernahme von Doppelstaatsangehörigkeiten erleichtern.

Sie sind der Nachfolger des Christdemokraten Armin Laschet, dessen Integrationspolitik gelobt wurde. Auch wenn das Bild bei Ihrer und seiner Statur etwas unpassend erscheint: Sind seine Schuhe nicht etwas zu groß für Sie?

Guntram Schneider: Nein, überhaupt nicht. Laschet hat Marken gesetzt, an die man anknüpfen kann, das ist keine Frage. Allerdings liegen bei mir die Akzente etwas anders. Mir geht es um eine Integrationspolitik von unten - ausgehend von dem, was die Menschen erleben. Im nächsten Jahr werden wir ein Integrationsgesetz in den Landtag einbringen werden,  um Integration auf verbindliche Beine zu stellen. Hierüber werde ich einen breiten Diskurs mit allen gesellschaftlichen Kräften und besonders mit den selbstorganisierten Menschen mit Migrationshintergrund initiieren.

Es wird jetzt über nützliche und unnütze Zuwanderer diskutiert. Bundeswirtschaftsminister Brüderle fordert ein „Punktesystem“, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Was halten Sie davon?

Guntram Schneider: Wir brauchen ein solches Punktesystem im Moment nicht. Der drohende Fachkräftemangel muss primär dadurch bekämpft werden, dass man die Menschen, die hier sind, qualifiziert. Das gilt gerade auch für Menschen mit Migrationshintergrund: Ihre Arbeitslosenquote ist fast dreimal so hoch wie der Durchschnitt. Das ist einfach nicht akzeptabel. Darüber hinaus wären schon ein Stück weiter, wenn wir uns endlich ernsthaft der Anerkennung ausländischer Abschlüsse und Diplome widmen würden. Wir haben alleine in NRW 130.000 Menschen mit ausländischen Abschlüssen, die darauf warten, dass diese Qualifikationen anerkannt werden. Hier gibt es ein großes Reservoire an Fachkräften, das wir im Interesse unserer Wirtschaft auch heben müssen. Ansonsten wäre dringend mehr Sachlichkeit in der Integrationsdebatte angesagt. Betrachten Sie nur den Einwanderungs- und Auswanderungssaldo mit der Türkei: Im letzten Jahr haben mehr Menschen, vor allem Hochqualifizierte, Deutschland in Richtung Türkei wieder verlassen als über den Familienzuzug zu uns gekommen sind. Das ist die fatale Folge solch abschreckender Diskussionen.


z u r  p e r s o n

Guntram Schneider (SPD), 59, ist seit Mitte Juli Minister für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen. Zuvor war er DGB-Landeschef.


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