MIGRANTEN
Nordrhein-Westfalens Integrationsminister Guntram Schneider (SPD) wirft
der Union Stammtischparolen vor - und ist selbst gegen eine Zuwanderung
per Punktesystem.
taz:
Welche Erklärung haben Sie für die große Erregung, mit der gegenwärtig
in Deutschland über Integration diskutiert wird?
Guntram Schneider: Das
hat verschiedene Ursachen. Zum einen geht es um reale Probleme: Die
konkrete Integrationspolitik hat viel zu spät eingesetzt, weil die Politik
zu lange dem Irrglauben anhing, Deutschland sei kein Einwanderungsland.
Viele in der Union wollen das ja bis heute nicht wahrhaben. Zum anderen
wird hier perfide versucht, aus der Diskreditierung gesellschaftlicher
Minderheiten politisch Kapital zu schlagen.
Wen meinen Sie damit?
Guntram Schneider:
Bei Herrn Seehofer und seiner Partei sieht man
das beispielsweise sehr deutlich. Die meinen, sie müssten den
deutschen Stammtisch bedienen, um aus einem politischen Loch
herauszukommen. Ich halte es für unverantwortlich, wenn bisherige
Integrationserfolge kurzfristigen politischen Profilierungsinteressen
geopfert werden.
Laut einer aktuellen Studie der
Friedrich-Ebert-Stiftung hält jeder dritte Deutsche sein Land für
„überfremdet“. Zeigt sich hier nicht eine weitverbreitete
Integrationsverweigerung in der Mehrheitsgesellschaft?
Guntram Schneider:
Das ist richtig. Solche Tendenzen gibt es. Es gibt auf der einen Seite
zwar immer mehr Mitbürger, die das Interesse und auch die Fähigkeit haben,
auf Fremde zuzugehen – das gilt für beide Seiten: in der sogenannten
Mehrheitsgesellschaft als auch bei den Menschen mit Migrationshintergrund.
Auf der anderen Seite wächst aber auch die Ablehnung bei einem Teil der
deutschen Bevölkerung. Dies ist letztendlich ein soziales Problem und
hängt mit der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft zusammen. Hier müssen
wir entgegenwirken.
Liefern solche Studienergebnisse
nicht einen Beleg für die Aussage Angela Merkels, der Ansatz von
Multikulti sei „absolut gescheitert“?
Guntram Schneider:
Ich kann mit einem solchen Testat nichts anfangen. Wer sagt, Multikulti
ist gescheitert, kann auch behaupten, zwei mal zwei ist nicht vier. Wir
leben doch in einer multikulturellen Gesellschaft. Schauen Sie mal nach
Düsseldorf: Hier sind weit über 130 Nationalitäten zuhause und
entsprechend bunt ist auch das Leben. Wie organisieren wir ein möglichst
spannungsarmes Zusammenleben sehr unterschiedlicher Menschen? Das ist die
Frage, um die es geht. Die Geschäftsgrundlage dafür ist unsere
Rechtsordnung und die Verfassung.
Was bedeutet das konkret?
Guntram Schneider:
Die Integrationspolitik der rot-grünen Landesregierung hat drei zentrale
Elemente: Erstens geht es um Bildung. Ausgehend von den Kindergärten muss
sichergestellt sein, dass kein Kind eingeschult wird, das nicht die
deutsche Sprache kann. Das ist eine Grundvoraussetzung. Zweitens geht es
um Arbeit. Wir müssen mehr für berufliche Qualifizierung tun, damit
Menschen mit Migrationshintergrund besser auf dem ersten Arbeitsmarkt
Platz finden. Drittens wollen wir die Möglichkeiten an gesellschaftlicher
Teilhabe und Beteiligung erhöhen, zum Beispiel über das kommunale
Wahlrecht für Nicht-EU-Ausländer. Außerdem wollen wir die Übernahme von
Doppelstaatsangehörigkeiten erleichtern.
Sie sind der Nachfolger des
Christdemokraten Armin Laschet, dessen Integrationspolitik gelobt wurde.
Auch wenn das Bild bei Ihrer und seiner Statur etwas unpassend erscheint:
Sind seine Schuhe nicht etwas zu groß für Sie?
Guntram Schneider:
Nein, überhaupt nicht. Laschet hat Marken gesetzt, an die man
anknüpfen kann, das ist keine Frage. Allerdings liegen bei mir die Akzente
etwas anders. Mir geht es um eine Integrationspolitik von unten -
ausgehend von dem, was die Menschen erleben. Im nächsten Jahr werden wir
ein Integrationsgesetz in den Landtag einbringen werden,
um Integration auf verbindliche
Beine zu stellen. Hierüber werde ich einen breiten Diskurs mit allen
gesellschaftlichen Kräften und besonders mit den selbstorganisierten
Menschen mit Migrationshintergrund initiieren.
Es wird jetzt über nützliche und
unnütze Zuwanderer diskutiert. Bundeswirtschaftsminister Brüderle fordert
ein „Punktesystem“, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Was halten Sie
davon?
Guntram Schneider:
Wir brauchen ein solches Punktesystem im Moment nicht. Der drohende
Fachkräftemangel muss primär dadurch bekämpft werden, dass man die
Menschen, die hier sind, qualifiziert. Das gilt gerade auch für Menschen
mit Migrationshintergrund: Ihre Arbeitslosenquote ist fast dreimal so hoch
wie der Durchschnitt. Das ist einfach nicht akzeptabel. Darüber hinaus
wären schon ein Stück weiter, wenn wir uns endlich ernsthaft der
Anerkennung ausländischer Abschlüsse und Diplome widmen würden. Wir haben
alleine in NRW 130.000 Menschen mit ausländischen Abschlüssen, die darauf
warten, dass diese Qualifikationen anerkannt werden. Hier gibt es ein
großes Reservoire an Fachkräften, das wir im Interesse unserer Wirtschaft
auch heben müssen. Ansonsten wäre dringend mehr Sachlichkeit in der
Integrationsdebatte angesagt. Betrachten Sie nur den Einwanderungs- und
Auswanderungssaldo mit der Türkei: Im letzten Jahr haben mehr Menschen,
vor allem Hochqualifizierte, Deutschland in Richtung Türkei wieder
verlassen als über den Familienzuzug zu uns gekommen sind. Das ist die
fatale Folge solch abschreckender Diskussionen.