die tageszeitung
04.08.2011



Interview mit
Sylvia Löhrmann

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taz
 

 "Wir stärken den Elternwillen"
Interview von Pascal Beucker und Anna Lehmann

Sylvia LöhrmannKOMPROMISS Die NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) verteidigt sich gegen Vorwürfe, sie habe die Ideale ihrer Partei verraten.

taz: Frau Löhrmann, kennen Sie den Satz: "Mit dem Festhalten am gegliederten Schulsystem werden Kindern systematisch Bildungschancen vorenthalten."

Sylvia Löhrmann: Der könnte von mir sein.

Genau. Wie kommt es, dass ausgerechnet Sie das gegliederte Schulsystem in der Landesverfassung zementieren wollen?

Sylvia Löhrmann: Die Gliederung des Schulsystems steht schon in unserer Verfassung. Dass wir die Gliederung mit der CDU nicht aus der Verfassung bekommen, war klar. Wer was anderes erwartet hätte, der wäre naiv.

Sie haben sich von der CDU über den Tisch ziehen lassen?

Sylvia Löhrmann: Überhaupt nicht. Wir nehmen integrierte Schulformen erstmalig in die Verfassung auf. Das ist doch ein Fortschritt. Die CDU wollte ursprünglich Gymnasien und Realschulen in der Verfassung verankern; das haben wir verhindert. Vor allem haben wir erreicht, dass die Hauptschulgarantie gestrichen wird. Für diesen entscheidenden Schritt brauchen wir die CDU.

Sie haben für die Grünen stets verkündet, Ihr Ziel sei eine Schule für alle Kinder. Dieses Ziel haben Sie dem Kompromiss geopfert, oder?

Sylvia Löhrmann: Nein, wir haben überhaupt nichts geopfert. Wir machen pragmatische Politik und schaffen mit der Sekundarschule eine neue, starke, zukunftsfeste Schule, in der alle Kinder willkommen sind, in der sich Elemente aller bisherigen Schulformen wiederfinden. Allen Kindern unabhängig von ihrer sozialen Herkunft wird - ohne die Selektion nach der Klasse 4 - der Zugang zu allen Bildungsabschlüssen eröffnet.

Und dazu brauchen Sie die Sekundarschulen - zusätzlich zu Gesamt- und Gemeinschaftsschulen. Verwirrend. Erklären Sie doch bitte, was in einer Sekundarschule anders ist als in einer Gesamtschule, wie sie seit 40 Jahren in NRW existiert.

Sylvia Löhrmann: Die Sekundarschule kann mit drei Klassen gegründet werden, während die Gesamtschule mindestens vier Parallelklassen braucht. Für die kleineren Gemeinden auf dem Land, wo die Schülerzahlen stark zurückgehen, ist das ein entscheidender Faktor.

Abgesehen davon kapieren die Eltern aber doch gar nicht, was im Unterricht anders ist.

Sylvia Löhrmann: Richtig ist: Die Kinder bekommen an der Sekundarschule ein ähnliches Angebot wie an der Gesamtschule. In Klasse fünf und sechs wird gemeinsam gelernt, und an den Sekundarschulen ist dies sogar bis zur Klasse zehn möglich.

Das ist an Gesamtschulen nicht möglich?

Sylvia Löhrmann: Doch, einzelne machen das, aber die meisten differenzieren in E- und G-Kursen. Die Gemeinschafts-, ich meine die Sekundarschule, ich verspreche mich da manchmal noch, kann auch äußere Differenzierungen vornehmen, muss es aber nicht.

Selbst Sie als Bildungsministerin versprechen sich, wie sollen die Eltern da durchblicken? Eines ist jedenfalls klar: Die Gymnasien werden gestärkt.

Sylvia Löhrmann: Die Gymnasien sind so stark, wie sie durch den Elternwillen gemacht werden. Aber auch sie verändern sich und müssen sich auf eine heterogenere Schülerschaft einstellen. Für ein Gymnasium wird es zukünftig nicht mehr nur darauf ankommen, Kinder zum Abitur zu führen, sondern jeden Jugendlichen mindestens zu einem mittleren Bildungsabschluss zu bringen und auf Abschulung zu verzichten.

Das Abschulen wird verboten?

Sylvia Löhrmann: Wir wollen das Abschulen abbauen, und zwar an und im Diskurs mit den Gymnasien. Das ist das einstimmige Ergebnis der NRW-Bildungskonferenz.

Die Gymnasien werden also keine neuen Einheitsschulen?

Sylvia Löhrmann: Die Gymnasien entwickeln sich weiter. Wenn Sie sich beispielsweise das mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnete Genoveva-Gymnasium in Köln anschauen. Das war eine Schule, die wahrscheinlich auf Grund ihrer Lage im sozialen Brennpunkt über kurz oder lang nicht mehr hinreichend angenommen worden wäre. Sie hat sich aber im Ganztag enorm weiterentwickelt. Dort haben siebzig Prozent der Jugendlichen eine Zuwanderungsgeschichte, und sie werden dort gut gefördert und zu einem guten Schulabschluss geführt. Auch das verstehe ich unter innovativer Schulentwicklung.

Von Ihrem Berliner Parteifreund Özcan Mutlu stammt der Satz, eher werde in Deutschland das Biertrinken abgeschafft als das Gymnasium. Haben sich nach der SPD in den 70er Jahren jetzt auch die Grünen daran die Zähne ausgebissen?

Sylvia Löhrmann: Die Grünen stehen für eine Ermöglichungsstrategie, und als Koalition haben wir stets betont, dass wir keine Schulform abschaffen. Ich persönlich halte überhaupt nichts davon, Schulen und Schulformen gegeneinander auszuspielen.

Wie überzeugen Sie den Professor, seine Tochter demnächst auf die Sekundarschule zu schicken und nicht doch lieber auf das Gymnasium?

Sylvia Löhrmann: Wer wie wir den Elternwillen stärkt, kann ihnen doch nicht auf der anderen Seite eine Schule vorschreiben oder verbieten. Ich weiß jedoch, dass viele Eltern mit der auf acht Jahre verkürzten Gymnasialzeit unzufrieden sind, und sie ihre Kinder lieber ein Jahr länger zur Schule schicken wollen, damit sie ein gutes Abitur machen. Ein attraktives, umfassendes und wohnortnahes Angebot der Sekundarschule wird Eltern aller Schichten überzeugen.

Ein Problem ist doch, dass die Sekundarschulen keine eigene gymnasiale Oberstufe haben werden. Das hat sich die rot-grüne Regierung von der CDU diktieren lassen, die das Gymnasium für ihre Klientel stärken will.

Sylvia Löhrmann: Es wurde überhaupt nichts diktiert, sondern wir haben gemeinsam überlegt, wie wir unser Schulsystem zukunftsfest machen. Wer sein Kind an einer Sekundarschule anmeldet, weiß, wo es das Abitur machen kann, weil es verbindliche Kooperationen mit einer Oberstufe gibt.

Werden die Sekundarschulen besser ausgestattet sein als die Gymnasien?

Sylvia Löhrmann: Darum haben wir lange gerungen. Es gibt jetzt aus unserer Sicht ein gutes Angebot: Die Sekundarschulen und neuen Gesamtschulen gehen mit nur 25 Schülern pro Klasse an den Start, an Gymnasien sind es zurzeit noch 28. Mittelfristig passen wir die Klassenfrequenzen überall an.

Das Problem der sozialen Auslese bleibt mit dem Nebeneinander von angesehenen Gymnasien und zu Sekundarschulen umgetauften Haupt- und Realschulen aber doch bestehen?

Sylvia Löhrmann: Die Sekundarschule bietet auch gymnasiale Standards und arbeitet mit einem völlig anderen pädagogischen Konzept. Und was die Gelingensbedingungen angeht: Dort, wo sozial schwierigere Milieus vorliegen, bekommen die jeweiligen Schulen, die sich dieser Herausforderungen in besonderer Weise annehmen, zusätzliche Mittel.

Derzeit verlassen 11.922 Schüler in Nordrhein-Westfalen die Schule ohne Abschluss - vorwiegend aus Haupt- und Förderschulen. Wie viele Schüler ohne Abschluss werden Sie in den nächsten Jahren haben?

Sylvia Löhrmann: Wir haben uns in der Koalition vorgenommen, in den nächsten zehn Jahren die Zahl der Schulabbrecher und Jugendlichen ohne Schulabschluss zu halbieren.

Das hat Angela Merkel schon vor drei Jahren verkündet. Die Hauptschule will sie ebenfalls abschaffen. Was unterscheidet die Grünen eigentlich bildungspolitisch noch von der CDU?

Sylvia Löhrmann: Wir glauben an die Chancen der Heterogenität, an Vielfalt. Die CDU fügt sich aufgrund der demografischen Entwicklung in einen Prozess, der für sie ein großer Schritt ist. Wir haben erreicht, dass Kinder länger gemeinsam lernen. Das auszubauen ist, wofür die Grünen angetreten sind. Es wird Orte geben, wo es nur eine Sekundarschule oder auch nur eine Gesamtschule gibt. Wir werden andere Regionen haben, in denen es eine größere Vielfalt von Schulformen gibt. Das finde ich angesichts der Größe Nordrhein-Westfalens auch in Ordnung.

z u r  p e r s o n

Sylvia Löhrmann

Die 54-Jährige ist seit Juli 2010 Ministerin für Schule und Weiterbildung in Nordrhein-Westfalen. Die Grünen-Politikerin ist gleichzeitig stellvertretende Ministerpräsidentin. Zu Beginn ihres Berufslebens war sie Lehrerin an einer Gesamtschule, Fächer: Englisch und Deutsch.


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