KOMPROMISS
Die NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) verteidigt sich gegen
Vorwürfe, sie habe die Ideale ihrer Partei verraten.
taz: Frau
Löhrmann, kennen Sie den Satz: "Mit dem Festhalten am gegliederten
Schulsystem werden Kindern systematisch Bildungschancen vorenthalten."
Sylvia Löhrmann: Der könnte von
mir sein.
Genau. Wie kommt es, dass
ausgerechnet Sie das gegliederte Schulsystem in der Landesverfassung
zementieren wollen?
Sylvia Löhrmann:
Die Gliederung des Schulsystems steht schon in unserer Verfassung. Dass
wir die Gliederung mit der CDU nicht aus der Verfassung bekommen, war
klar. Wer was anderes erwartet hätte, der wäre naiv.
Sie haben sich von der CDU über
den Tisch ziehen lassen?
Sylvia Löhrmann:
Überhaupt nicht. Wir nehmen integrierte Schulformen erstmalig in die
Verfassung auf. Das ist doch ein Fortschritt. Die CDU wollte ursprünglich
Gymnasien und Realschulen in der Verfassung verankern; das haben wir
verhindert. Vor allem haben wir erreicht, dass die Hauptschulgarantie
gestrichen wird. Für diesen entscheidenden Schritt brauchen wir die CDU.
Sie haben für die Grünen stets
verkündet, Ihr Ziel sei eine Schule für alle Kinder. Dieses Ziel haben Sie
dem Kompromiss geopfert, oder?
Sylvia Löhrmann:
Nein, wir haben überhaupt nichts geopfert. Wir machen pragmatische Politik
und schaffen mit der Sekundarschule eine neue, starke, zukunftsfeste
Schule, in der alle Kinder willkommen sind, in der sich Elemente aller
bisherigen Schulformen wiederfinden. Allen Kindern unabhängig von ihrer
sozialen Herkunft wird - ohne die Selektion nach der Klasse 4 - der Zugang
zu allen Bildungsabschlüssen eröffnet.
Und dazu brauchen Sie die
Sekundarschulen - zusätzlich zu Gesamt- und Gemeinschaftsschulen.
Verwirrend. Erklären Sie doch bitte, was in einer Sekundarschule anders
ist als in einer Gesamtschule, wie sie seit 40 Jahren in NRW existiert.
Sylvia Löhrmann:
Die Sekundarschule kann mit drei Klassen gegründet werden, während die
Gesamtschule mindestens vier Parallelklassen braucht. Für die kleineren
Gemeinden auf dem Land, wo die Schülerzahlen stark zurückgehen, ist das
ein entscheidender Faktor.
Abgesehen davon kapieren die
Eltern aber doch gar nicht, was im Unterricht anders ist.
Sylvia Löhrmann:
Richtig ist: Die Kinder bekommen an der Sekundarschule ein ähnliches
Angebot wie an der Gesamtschule. In Klasse fünf und sechs wird gemeinsam
gelernt, und an den Sekundarschulen ist dies sogar bis zur Klasse zehn
möglich.
Das ist an Gesamtschulen nicht
möglich?
Sylvia Löhrmann:
Doch, einzelne machen das, aber die meisten differenzieren in E- und
G-Kursen. Die Gemeinschafts-, ich meine die Sekundarschule, ich verspreche
mich da manchmal noch, kann auch äußere Differenzierungen vornehmen, muss
es aber nicht.
Selbst Sie als
Bildungsministerin versprechen sich, wie sollen die Eltern da
durchblicken? Eines ist jedenfalls klar: Die Gymnasien werden gestärkt.
Sylvia Löhrmann:
Die Gymnasien sind so stark, wie sie durch den Elternwillen gemacht
werden. Aber auch sie verändern sich und müssen sich auf eine heterogenere
Schülerschaft einstellen. Für ein Gymnasium wird es zukünftig nicht mehr
nur darauf ankommen, Kinder zum Abitur zu führen, sondern jeden
Jugendlichen mindestens zu einem mittleren Bildungsabschluss zu bringen
und auf Abschulung zu verzichten.
Das Abschulen wird verboten?
Sylvia Löhrmann:
Wir wollen das Abschulen abbauen, und zwar an und im Diskurs mit den
Gymnasien. Das ist das einstimmige Ergebnis der NRW-Bildungskonferenz.
Die Gymnasien werden also keine
neuen Einheitsschulen?
Sylvia Löhrmann:
Die Gymnasien entwickeln sich weiter. Wenn Sie sich beispielsweise das mit
dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnete Genoveva-Gymnasium in Köln
anschauen. Das war eine Schule, die wahrscheinlich auf Grund ihrer Lage im
sozialen Brennpunkt über kurz oder lang nicht mehr hinreichend angenommen
worden wäre. Sie hat sich aber im Ganztag enorm weiterentwickelt. Dort
haben siebzig Prozent der Jugendlichen eine Zuwanderungsgeschichte, und
sie werden dort gut gefördert und zu einem guten Schulabschluss geführt.
Auch das verstehe ich unter innovativer Schulentwicklung.
Von Ihrem Berliner Parteifreund
Özcan Mutlu stammt der Satz, eher werde in Deutschland das Biertrinken
abgeschafft als das Gymnasium. Haben sich nach der SPD in den 70er Jahren
jetzt auch die Grünen daran die Zähne ausgebissen?
Sylvia Löhrmann:
Die Grünen stehen für eine Ermöglichungsstrategie, und als Koalition haben
wir stets betont, dass wir keine Schulform abschaffen. Ich persönlich
halte überhaupt nichts davon, Schulen und Schulformen gegeneinander
auszuspielen.
Wie überzeugen Sie den
Professor, seine Tochter demnächst auf die Sekundarschule zu schicken und
nicht doch lieber auf das Gymnasium?
Sylvia Löhrmann:
Wer wie wir den Elternwillen stärkt, kann ihnen doch nicht auf der anderen
Seite eine Schule vorschreiben oder verbieten. Ich weiß jedoch, dass viele
Eltern mit der auf acht Jahre verkürzten Gymnasialzeit unzufrieden sind,
und sie ihre Kinder lieber ein Jahr länger zur Schule schicken wollen,
damit sie ein gutes Abitur machen. Ein attraktives, umfassendes und
wohnortnahes Angebot der Sekundarschule wird Eltern aller Schichten
überzeugen.
Ein Problem ist doch, dass die
Sekundarschulen keine eigene gymnasiale Oberstufe haben werden. Das hat
sich die rot-grüne Regierung von der CDU diktieren lassen, die das
Gymnasium für ihre Klientel stärken will.
Sylvia Löhrmann:
Es wurde überhaupt nichts diktiert, sondern wir haben gemeinsam überlegt,
wie wir unser Schulsystem zukunftsfest machen. Wer sein Kind an einer
Sekundarschule anmeldet, weiß, wo es das Abitur machen kann, weil es
verbindliche Kooperationen mit einer Oberstufe gibt.
Werden die Sekundarschulen
besser ausgestattet sein als die Gymnasien?
Sylvia Löhrmann:
Darum haben wir lange gerungen. Es gibt jetzt aus unserer Sicht ein gutes
Angebot: Die Sekundarschulen und neuen Gesamtschulen gehen mit nur 25
Schülern pro Klasse an den Start, an Gymnasien sind es zurzeit noch 28.
Mittelfristig passen wir die Klassenfrequenzen überall an.
Das Problem der sozialen Auslese
bleibt mit dem Nebeneinander von angesehenen Gymnasien und zu
Sekundarschulen umgetauften Haupt- und Realschulen aber doch bestehen?
Sylvia Löhrmann:
Die Sekundarschule bietet auch gymnasiale Standards und arbeitet mit einem
völlig anderen pädagogischen Konzept. Und was die Gelingensbedingungen
angeht: Dort, wo sozial schwierigere Milieus vorliegen, bekommen die
jeweiligen Schulen, die sich dieser Herausforderungen in besonderer Weise
annehmen, zusätzliche Mittel.
Derzeit verlassen 11.922 Schüler
in Nordrhein-Westfalen die Schule ohne Abschluss - vorwiegend aus Haupt-
und Förderschulen. Wie viele Schüler ohne Abschluss werden Sie in den
nächsten Jahren haben?
Sylvia Löhrmann:
Wir haben uns in der Koalition vorgenommen, in den nächsten zehn Jahren
die Zahl der Schulabbrecher und Jugendlichen ohne Schulabschluss zu
halbieren.
Das hat Angela Merkel schon vor
drei Jahren verkündet. Die Hauptschule will sie ebenfalls abschaffen. Was
unterscheidet die Grünen eigentlich bildungspolitisch noch von der CDU?
Sylvia Löhrmann:
Wir glauben an die Chancen der Heterogenität, an Vielfalt. Die CDU fügt
sich aufgrund der demografischen Entwicklung in einen Prozess, der für sie
ein großer Schritt ist. Wir haben erreicht, dass Kinder länger gemeinsam
lernen. Das auszubauen ist, wofür die Grünen angetreten sind. Es wird Orte
geben, wo es nur eine Sekundarschule oder auch nur eine Gesamtschule gibt.
Wir werden andere Regionen haben, in denen es eine größere Vielfalt von
Schulformen gibt. Das finde ich angesichts der Größe Nordrhein-Westfalens
auch in Ordnung.
z u r p e r s o n
Sylvia Löhrmann
Die 54-Jährige ist seit Juli 2010 Ministerin
für Schule und Weiterbildung in Nordrhein-Westfalen. Die
Grünen-Politikerin ist gleichzeitig stellvertretende
Ministerpräsidentin. Zu Beginn ihres Berufslebens war sie Lehrerin
an einer Gesamtschule, Fächer: Englisch und Deutsch.
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