Der stellvertretende
NRW-Ministerpräsident Michael Vesper über die Aufhebung
der 5%-Hürde bei den NRW-Kommunalwahlen, den fehlenden
Ruhrbezirk, schwarz-grüne Freundschaften und eine
mögliche Karriere nach der Politik.
Herr Vesper, welchen
Verfassungsbruch plant die rot-grüne Koalition als
nächstes?
Michael Vesper: Wir
sind immer strikt verfassungstreu und stehen fest auf dem
Boden der Verfassung. Wir werden dem Verfassungsgericht
in Zukunft keinen Anlaß bieten, irgendwelche
Entscheidungen zu treffen, die Zweifel daran aufkommen
lassen könnten.
Allerdings hat
der Verfassungsgerichtshof in Münster bereits dreimal in
diesem Jahr der rot-grünen Mehrheit im Land bescheinigt,
verfassungswidrig gehandelt zu haben. Ist das nicht eine
beschämende Bilanz?
Michael Vesper: So
kann man das nicht sehen. Worum ging es denn bei den drei
Beschlüssen von Münster genau? Als erstes ist eine
Organisationsentscheidung des Ministerpräsidenten - die
Zusammenlegung von Justiz- und Innenministerium -
kassiert worden, die er ohne die Grünen getroffenen
hatte. Zweitens ist der Landtagsmehrheit zu Recht ins
Stammbuch geschrieben worden, daß sie CDU-Anträge durch
Änderungsanträge nicht in ihr Gegenteil verkehren darf
- eine Praxis, auf der der verstorbene
Fraktionsvorsitzende der SPD, Klaus Matthiesen, bestanden
hatte, um eine Ablehnung der CDU-Anträge zu vermeiden.
Wir hatten dabei von Anfang an ein ungutes Gefühl.
Drittens nun die Entscheidung gegen die
Fünf-Prozent-Klausel. Auch hier sind wir Grünen anders
als die SPD schon lange der Meinung, daß wir in
Nordrhein-Westfalen ein neues Wahlsystem für die
Kommunalwahlen brauchen und nach bayrischem und
baden-württembergischem Vorbild Kumulieren und
Panaschieren einführen sollten. Das erhöht die
demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten der Wählerinnen
und Wähler und führt faktisch zu einer Aufhebung der
Fünf-Prozent-Klausel.
Hat sich Ihre
Partei nicht eigentlich insgeheim über die starre
Haltung der SPD bei der Fünf-Prozent-Hürde gefreut?
Immerhin hielt die Hürde doch auch den Grünen
unliebsame Konkurrenz durch die FDP oder die PDS vom
Hals.
Michael Vesper:
Nein, das hat keine Rolle gespielt. Was ich nicht
akzeptieren kann, ist die pharisäerhafte Haltung der
CDU, die sich nun als der Hüter der demokratischen
Kultur aufspielt, obwohl sie sich ebenso wie die andere
große Partei in NRW stets gegen solche Öffnungen
gewehrt hat.
Aber das
Kumulieren und Panaschieren hätte doch schon längst
eingeführt sein können, wenn die Grünen im Landtag im
Mai letzten Jahres nicht gegen einen CDU-Antrag gestimmt
hätten, der genau das vorsah. Machen sich die Grünen
nicht unglaubwürdig, wenn sie aus Gründen der
Koalitionsräson gegen ihre eigenen Positionen stimmen?
Michael Vesper:
Eine Koalition kann nur funktionieren, wenn wechselnde
Mehrheiten ausgeschlossen sind. Ein anderes Verfahren
kostete uns mehr, als es uns nützte. Da brauchen Sie
doch nur die vielen Punkte zu sehen, in denen sich SPD
und CDU wie ein Ei dem anderen gleichen. Im übrigen
wundere ich mich immer wieder, wie sehr manche von uns
auch nach vier Jahren immer noch oppositionelles
Verhalten in der Regierung erwarten, obwohl doch jedem
klar sein müßte, daß das nicht geht. Das kann ja wohl
nur daran liegen, daß die wirkliche Opposition zu
schwach ist. Wir sind Teil der Regierung - und diese
Regierung muß verläßlich arbeiten. Da kann man sich
als Koalitionspartner nicht immer durchsetzen. Oft ist es
nur eine Frage der Zeit, bis wir unsere Ziele erreichen.
Wir schaffen jetzt die Fünf-Prozent-Hürde ab, wie es
die Grünen wollten. Und ich bin sicher, daß wir bis zur
übernächsten Wahl das Kumulieren und Panaschieren
einführen werden. Ebenso überzeugt bin ich, daß wir in
absehbarer Zeit auch die Hürden für Volksbegehren und
Volksentscheide senken werden. Das sind Forderungen, die
wir seit Jahren vortragen und die wir bisher gegen die
SPD, die gerade in diesen Fragen hier in
Nordrhein-Westfalen außerordentlich konservativ ist,
nicht durchsetzen konnten. Wir gehen da nach dem Prinzip
vor: Steter Tropfen höhlt den Stein.
Halten Sie
nicht trotzdem die Kritik des grünen Landessprechers
Reiner Priggen für reichlich deplaziert, der den
Münsteraner Richter vorwirft, sie hätten ihre
Entscheidung bereits viel früher treffen können? Wäre
da nicht der Landtag ein besserer Adressat gewesen?
Schließlich hätte der schon nach dem VGH-Urteil von
1994 gewarnt sein müssen, daß die Fünf-Prozent-Klausel
auf der Kippe steht.
Michael Vesper: Der
Landtag hat insgesamt den Fehler gemacht, daß er die
Entscheidung von 1994 in ihren Konsequenzen nicht ernst
genug genommen hat. Das Gericht hatte ja eine
Fünf-Prozent-Hürde nicht unter allen Umständen
ausgeschlossen, sondern den Landtag in die Pflicht
genommen, die Hürde stichhaltig zu begründen. Das hat
er nicht getan. Die jetzige Hektik hat nicht das Gericht
zu verantworten. Zum einen hat der Landtag seine
Stellungnahme verspätet abgegeben. Und zum anderen hat
er in der mündlichen Verhandlung die goldene Brücke
nicht betreten, die ihm das Gericht gebaut hatte, um die
Entscheidung hinter den Termin der Kommunalwahl zu legen.
Aber das ist nun mal passiert, und der Landtag hat
schnell und angemessen auf das Urteil reagiert: Die
Fünf-Prozent-Hürde ist abgeschafft worden. Und die
Wahlen können fristgerecht am 12. September stattfinden.
Der Umgang des
Landtags mit den Klagen von ÖDP und PDS zeichnete sich
vor allem durch Arroganz und Schlamperei aus.
Parlamentspräsident Ulrich Schmidt ließ sogar die erste
vom Verfassungsgericht gesetzte Frist zur schriftlichen
Stellungnahme verstreichen. Erst zwei Tage nach dieser
Frist mandatierte er die Prozeßvertreter des Landtages.
Können sich die notwendigen Konsequenzen aus dem
Desaster auf den Rauswurf von
Parlamentsverwaltungsdirektor Heinrich Große-Sender
beschränken? Müßte nicht auch der Landtagspräsident
seinen Hut nehmen?
Michael Vesper:
Landtagspräsident Ulrich Schmidt hat personelle
Konsequenzen gezogen. Ob die rechtlich Bestand haben,
wird man sehen. Der Landtag sollte auf jeden Fall aus
diesem Verfahren lernen, Stellungnahmen künftig
fristgerecht abzugeben.
Nach der
Sommerpause beginnt die heiße Phase des
Kommunalwahlkampfes. Wird dabei für die Grünen die
Forderung nach Einführung eines Ruhrbezirks ein
zentrales Thema sein?
Michael Vesper:
Natürlich, im Revier wird das unser Thema sein. Im
Augenblick ist der Ruhrbezirk in der Koalition auf
Landesebene nicht durchsetzbar. Wir haben das mit der SPD
rauf- und runter diskutiert. Leider war keine Bewegung
erkennbar. Jetzt muß aus dem Ruhrgebiet selbst neuer
Schwung kommen. Als wir das Thema vor Monaten auf die
politische Tagesordnung setzten, dachten wir, daß sich
im Revier eine Menge bewegen würde. Ich muß zugeben,
daß ich ein wenig enttäuscht darüber bin, wie wenig
sich getan hat. Aber ich hoffe, daß sich nun im Zuge des
Kommunalwahlkampfes der Druck auf die SPD verstärkt -
auch aus den SPD-Unterbezirken im Revier, die für einen
Ruhrbezirk eintreten.
Ist denn nicht
mit Gründung der Agentur Ruhr und der Abwicklung des
Kommunalverbandes Ruhr (KVR) der Ruhrbezirk für
absehbare Zeit erledigt?
Michael Vesper:
Nein. Die Agentur ist eine sehr schlanke Organisation,
die Anstöße geben und Kreatives initiieren soll. Sie
soll wenig selber machen, aber viel in Bewegung bringen.
Sie ist nicht mit dem Apparat des KVR als kommunaler
Selbstorganisation zu vergleichen. Sie könnte ohne
weiteres auch parallel zu einem Ruhrbezirk existieren.
In der
politischen Auseinandersetzung um den Ruhrbezirk hat es
eine starke Zusammenarbeit der Grünen mit der CDU
gegeben, die vor allem über die Kampagne des Vereins pro
Ruhrgebiet organisiert worden ist. Könnte das nicht ein
Vorbote für schwarz-grüne Bündnisse auf kommunaler
oder gar auf der Landesebene sein?
Michael Vesper:
Für die Landesebene schließe ich eine Koalition der
Grünen mit der CDU aus. Wir wollen die erfolgreiche
Koalition mit der SPD über den Mai 2000 hinaus
fortsetzen. Aber im Ruhrgebiet kann es möglicherweise in
der einen oder anderen Stadt zu einer schwarz-grünen
Zusammenarbeit kommen. Wir werden da von der Landesebene
aus nicht steuernd eingreifen. Allein die jeweiligen
Kreisverbände entscheiden das. Wie sie das tun, hängt
ganz stark von der SPD vor Ort ab. Mülheim ist ein
Beispiel: 1994 war die SPD durch selbstverschuldete
Skandale sehr tief gefallen, aber nicht in der Lage, von
ihrem hohen Roß herunterzusteigen. Wenn die SPD es
schafft, ihre durch absolute Mehrheiten gewachsene
Lethargie abzulegen und sich zu öffnen, dann sehe ich
auch Chancen für Rot-Grün im Revier.
Aber so einfach
ist die Zusammenarbeit mit der SPD doch auch nicht in der
Landesregierung. Verkehrsminister Steinbrück fördert
den Ausbau des Straßennetzes, besonders der Autobahnen
im Ruhrgebiet. Ist da nicht wieder ein Konflikt mit den
Grünen vorprogrammiert?
Michael Vesper:
Konflikte gibt es immer, gerade auf den Gebieten, für
die Kollege Steinbrück verantwortlich ist. Wir vertreten
zum Teil unterschiedliche Ansätze, was die
Verkehrspolitik angeht. Wir sind dafür, das Straßennetz
so zu erhalten, daß es leistungsfähig ist, und meinen,
daß die Zeiten des großen Neubaus vorbei sind. Die
Landesregierung hat in den vergangenen Jahren viel
erreicht, was den ÖPNV angeht. Ich denke an den
integrierten Taktfahrplan, das verbesserte Angebot an
Fahrzeugen, an die Fahrradstationen, an unser
Bahnhofsprogramm. In diese Richtung muß es weitergehen.
Sie haben
bereits in jungen Jahren intensive persönliche
Erfahrungen mit Schwarz-Grün gemacht. Ihr verstorbener
Vater war CDU-Ratsherr. "Hauptsach, de Jung ist nich
in de SPD", soll er Ihren Eintritt in die Grünen
kommentiert haben. Warum zeigen Sie sich so distanziert
gegenüber politischen Bündnissen mit der CDU?
Michael Vesper:
Kulturell bin ich gar nicht so distanziert. Meine
Freundschaften machen an Parteigrenzen nicht halt - auch
nicht zur CDU. In den siebziger Jahren war ich viel
distanzierter. Da habe ich fast alles abgelehnt, was von
der CDU kam.
Aber haben Sie
nicht damals sogar Wahlplakate für die CDU geklebt?
Michael Vesper: Da
war ich noch sehr jung. Später, als wir in den
Siebzigern politisiert wurden, war die CDU für uns nicht
akzeptabel. Heute ist die CDU für mich eine
demokratische Partei, die die Chance hat, sich zu wandeln
und zu öffnen. Aber das hat ja nichts mit Bündnissen zu
tun. Wenn man versucht, Rot-Grün zum Erfolg zu führen,
dann ist es widersinnig, über die Chancen von
Schwarz-Grün zu spekulieren.
Sie möchten
Rot-Grün zum Erfolg führen, indem Sie die Grünen zu
einer Öko-F.D.P. machen wollen. Ist das nicht ein
aberwitziger Weg? Der Sprecher der Landtagsgrünen,
Roland Appel, hat eindringlich davor gewarnt - und er
muß es wissen, schließlich ist er von der F.D.P. zu den
Grünen gekommen.
Michael Vesper:
Einspruch, Euer Ehren: Ich habe mich nie für eine grüne
F.D.P. ausgesprochen. Schon deswegen nicht, weil ich
keine Lust habe, in die Regionen abzusinken, in denen
sich die F.D.P. in der Wählerzustimmung bewegt. Ich habe
gesagt, daß wir bestimmte, im besten Sinne liberale
Positionen, die die F.D.P. sträflich verraten hat, noch
stärker als bisher aufnehmen sollten, zumal es hierfür
auf dem Wählermarkt eine Nachfrage gibt. Und diese
Positionen werden zur Zeit nur von den Grünen
glaubwürdig angeboten.
Welche
Positionen meinen Sie konkret?
Michael Vesper:
Beispielsweise ein gesundes Mißtrauen gegenüber
Großorganisationen, auch gegenüber einem zu starken
Staat. Es geht darum, auf die Verantwortung aller zu
setzen - und auch jedes einzelnen. Positionen, wie das
konsequente Eintreten für Bürgerrechte, für Toleranz
und für die Gleichstellung von alternativen Lebensformen
sind heute nur noch bei den Grünen zu Hause. Wir müssen
diese Positionen stärker herausstellen.
Wie verträgt
sich das Eintreten für Bürgerrechte und für den Schutz
von Minderheiten mit dem praktischen Handeln Ihrer
Partei, zum Beispiel mit der von den Kölner Grünen
veranlaßten polizeilichen Räumung von Flüchtlingen aus
ihrer Geschäftsstelle?
Michael Vesper: Es
ist für mich schwer, aus Düsseldorf eine Kölner Aktion
zu bewerten. Ich kenne, was passiert ist, nur aus
Zeitungen und Rundbriefen. Wir haben auch hier
Besetzungen erlebt, und ich weiß, wie schwierig eine
solche Situation gerade für die Mitarbeiter ist. Ich
gehe davon aus, daß meine Kölner Parteifreunde alle
Möglichkeiten ausgeschöpft haben, diese Sache anders
als durch eine Polizeiaktion zu lösen. Doch das ist
offenbar gescheitert.
Wenn Vertreter
Ihrer Strömung, die 'Realos', einer
"Liberalisierung" der Grünen das Wort reden,
vermitteln sie nicht den Eindruck, als wollten sie
verstärkt für Bürgerrechte streiten. Hier geht es doch
wohl mehr um ein wirtschaftsliberales Profil.
Michael Vesper:
Wenn man ökologische Politik durchsetzen will, dann muß
man in der Lage sein, auch mit den Teilen der Wirtschaft
zusammenzuarbeiten, die für ein solches Gedankengut
empfänglich sind. Und die mit dem ökologischen Wandel
auch Geld verdienen können. Wir müssen bei der
Umsetzung ökologischer Ziele noch stärker auf
Anreizsysteme und Zielvereinbarungen setzen.
Ist das
innerhalb der Grünen heute noch umstritten?
Michael Vesper:
Erfreulicherweise setzt sich dieser Gedanke in der Partei
immer mehr durch. Ich kämpfe seit langem dafür.
Zu Ihrer
Person: Kritiker meinen, Sie würden gegenüber Ihrer
grünen Kabinettskollegin Bärbel Höhn recht blaß
wirken. Sie verkörpern für viele eher den netten
Schwiegersohn von nebenan als einen starken
Grünen-Politiker, der den selbstherrlichen NRW-Sozis
auch mal richtig Paroli bieten könnte. Haben Sie kein
Problem mit einem solchen Image?
Michael Vesper: Ich
sehe nicht, daß ich ein solches Image habe, geschweige
denn, daß es zutrifft. Aber ich will nicht kommentieren,
wie andere mich sehen. Ich weiß nur, daß ich die Dinge,
die ich in dieser Koalition durchsetzen wollte,
durchgesetzt habe.
In Kürze
erscheint eine CD, auf der man den Politiker Vesper als
Blues-Sänger wird bewundern können. Bereiten Sie gerade
Ihren Umstieg in die Musikbranche vor?
Michael Vesper: Ich
habe lediglich der Bitte eines Freundes entsprochen, den
alten Blues-Brothers-Hit "She caught the Katy"
mit einem ironischen, auf uns Politiker gemünzten Text
zu singen. "Habe die Ehre", heißt das bei mir.
Ob ich dafür Bewunderung ernte, wage ich zu bezweifeln.
Aber wer weiß: Vielleicht komme ich später darauf
zurück, um eine wunderbare neue Karriere zu starten.
Sie machen seit
1983 hauptberuflich Politik und haben sich mittlerweile
als NRW-Minister eine Pension von fast 15.000 Mark pro
Monat ab dem 55. Lebensjahr gesichert. Haben Sie keine
Lust, mal etwas ganz anderes zu machen? Eine neue
Karriere als Musiker könnten Sie sich doch leisten.
Michael Vesper: Mir
macht Politik immer noch Spaß. Und ich will meine Arbeit
über den 14. Mai 2000 hinaus fortsetzen. Singen kann ich
irgendwann später dann immer noch.
Herr Vesper,
vielen Dank für das Gespräch.
|