15.07.1999



Interview mit Michael Vesper

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taz

*   "Singen kann ich später immer noch"
Von Pascal Beucker und David Schraven

Der stellvertretende NRW-Ministerpräsident Michael Vesper über die Aufhebung der 5%-Hürde bei den NRW-Kommunalwahlen, den fehlenden Ruhrbezirk, schwarz-grüne Freundschaften und eine mögliche Karriere nach der Politik.

Michael VesperHerr Vesper, welchen Verfassungsbruch plant die rot-grüne Koalition als nächstes?

Michael Vesper: Wir sind immer strikt verfassungstreu und stehen fest auf dem Boden der Verfassung. Wir werden dem Verfassungsgericht in Zukunft keinen Anlaß bieten, irgendwelche Entscheidungen zu treffen, die Zweifel daran aufkommen lassen könnten.

Allerdings hat der Verfassungsgerichtshof in Münster bereits dreimal in diesem Jahr der rot-grünen Mehrheit im Land bescheinigt, verfassungswidrig gehandelt zu haben. Ist das nicht eine beschämende Bilanz?

Michael Vesper: So kann man das nicht sehen. Worum ging es denn bei den drei Beschlüssen von Münster genau? Als erstes ist eine Organisationsentscheidung des Ministerpräsidenten - die Zusammenlegung von Justiz- und Innenministerium - kassiert worden, die er ohne die Grünen getroffenen hatte. Zweitens ist der Landtagsmehrheit zu Recht ins Stammbuch geschrieben worden, daß sie CDU-Anträge durch Änderungsanträge nicht in ihr Gegenteil verkehren darf - eine Praxis, auf der der verstorbene Fraktionsvorsitzende der SPD, Klaus Matthiesen, bestanden hatte, um eine Ablehnung der CDU-Anträge zu vermeiden. Wir hatten dabei von Anfang an ein ungutes Gefühl. Drittens nun die Entscheidung gegen die Fünf-Prozent-Klausel. Auch hier sind wir Grünen anders als die SPD schon lange der Meinung, daß wir in Nordrhein-Westfalen ein neues Wahlsystem für die Kommunalwahlen brauchen und nach bayrischem und baden-württembergischem Vorbild Kumulieren und Panaschieren einführen sollten. Das erhöht die demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten der Wählerinnen und Wähler und führt faktisch zu einer Aufhebung der Fünf-Prozent-Klausel.

Hat sich Ihre Partei nicht eigentlich insgeheim über die starre Haltung der SPD bei der Fünf-Prozent-Hürde gefreut? Immerhin hielt die Hürde doch auch den Grünen unliebsame Konkurrenz durch die FDP oder die PDS vom Hals.

Michael Vesper: Nein, das hat keine Rolle gespielt. Was ich nicht akzeptieren kann, ist die pharisäerhafte Haltung der CDU, die sich nun als der Hüter der demokratischen Kultur aufspielt, obwohl sie sich ebenso wie die andere große Partei in NRW stets gegen solche Öffnungen gewehrt hat.

Aber das Kumulieren und Panaschieren hätte doch schon längst eingeführt sein können, wenn die Grünen im Landtag im Mai letzten Jahres nicht gegen einen CDU-Antrag gestimmt hätten, der genau das vorsah. Machen sich die Grünen nicht unglaubwürdig, wenn sie aus Gründen der Koalitionsräson gegen ihre eigenen Positionen stimmen?

Michael Vesper: Eine Koalition kann nur funktionieren, wenn wechselnde Mehrheiten ausgeschlossen sind. Ein anderes Verfahren kostete uns mehr, als es uns nützte. Da brauchen Sie doch nur die vielen Punkte zu sehen, in denen sich SPD und CDU wie ein Ei dem anderen gleichen. Im übrigen wundere ich mich immer wieder, wie sehr manche von uns auch nach vier Jahren immer noch oppositionelles Verhalten in der Regierung erwarten, obwohl doch jedem klar sein müßte, daß das nicht geht. Das kann ja wohl nur daran liegen, daß die wirkliche Opposition zu schwach ist. Wir sind Teil der Regierung - und diese Regierung muß verläßlich arbeiten. Da kann man sich als Koalitionspartner nicht immer durchsetzen. Oft ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir unsere Ziele erreichen. Wir schaffen jetzt die Fünf-Prozent-Hürde ab, wie es die Grünen wollten. Und ich bin sicher, daß wir bis zur übernächsten Wahl das Kumulieren und Panaschieren einführen werden. Ebenso überzeugt bin ich, daß wir in absehbarer Zeit auch die Hürden für Volksbegehren und Volksentscheide senken werden. Das sind Forderungen, die wir seit Jahren vortragen und die wir bisher gegen die SPD, die gerade in diesen Fragen hier in Nordrhein-Westfalen außerordentlich konservativ ist, nicht durchsetzen konnten. Wir gehen da nach dem Prinzip vor: Steter Tropfen höhlt den Stein.

Halten Sie nicht trotzdem die Kritik des grünen Landessprechers Reiner Priggen für reichlich deplaziert, der den Münsteraner Richter vorwirft, sie hätten ihre Entscheidung bereits viel früher treffen können? Wäre da nicht der Landtag ein besserer Adressat gewesen? Schließlich hätte der schon nach dem VGH-Urteil von 1994 gewarnt sein müssen, daß die Fünf-Prozent-Klausel auf der Kippe steht.

Michael Vesper: Der Landtag hat insgesamt den Fehler gemacht, daß er die Entscheidung von 1994 in ihren Konsequenzen nicht ernst genug genommen hat. Das Gericht hatte ja eine Fünf-Prozent-Hürde nicht unter allen Umständen ausgeschlossen, sondern den Landtag in die Pflicht genommen, die Hürde stichhaltig zu begründen. Das hat er nicht getan. Die jetzige Hektik hat nicht das Gericht zu verantworten. Zum einen hat der Landtag seine Stellungnahme verspätet abgegeben. Und zum anderen hat er in der mündlichen Verhandlung die goldene Brücke nicht betreten, die ihm das Gericht gebaut hatte, um die Entscheidung hinter den Termin der Kommunalwahl zu legen. Aber das ist nun mal passiert, und der Landtag hat schnell und angemessen auf das Urteil reagiert: Die Fünf-Prozent-Hürde ist abgeschafft worden. Und die Wahlen können fristgerecht am 12. September stattfinden.

Der Umgang des Landtags mit den Klagen von ÖDP und PDS zeichnete sich vor allem durch Arroganz und Schlamperei aus. Parlamentspräsident Ulrich Schmidt ließ sogar die erste vom Verfassungsgericht gesetzte Frist zur schriftlichen Stellungnahme verstreichen. Erst zwei Tage nach dieser Frist mandatierte er die Prozeßvertreter des Landtages. Können sich die notwendigen Konsequenzen aus dem Desaster auf den Rauswurf von Parlamentsverwaltungsdirektor Heinrich Große-Sender beschränken? Müßte nicht auch der Landtagspräsident seinen Hut nehmen?

Michael Vesper: Landtagspräsident Ulrich Schmidt hat personelle Konsequenzen gezogen. Ob die rechtlich Bestand haben, wird man sehen. Der Landtag sollte auf jeden Fall aus diesem Verfahren lernen, Stellungnahmen künftig fristgerecht abzugeben.

Nach der Sommerpause beginnt die heiße Phase des Kommunalwahlkampfes. Wird dabei für die Grünen die Forderung nach Einführung eines Ruhrbezirks ein zentrales Thema sein?

Michael Vesper: Natürlich, im Revier wird das unser Thema sein. Im Augenblick ist der Ruhrbezirk in der Koalition auf Landesebene nicht durchsetzbar. Wir haben das mit der SPD rauf- und runter diskutiert. Leider war keine Bewegung erkennbar. Jetzt muß aus dem Ruhrgebiet selbst neuer Schwung kommen. Als wir das Thema vor Monaten auf die politische Tagesordnung setzten, dachten wir, daß sich im Revier eine Menge bewegen würde. Ich muß zugeben, daß ich ein wenig enttäuscht darüber bin, wie wenig sich getan hat. Aber ich hoffe, daß sich nun im Zuge des Kommunalwahlkampfes der Druck auf die SPD verstärkt - auch aus den SPD-Unterbezirken im Revier, die für einen Ruhrbezirk eintreten.

Ist denn nicht mit Gründung der Agentur Ruhr und der Abwicklung des Kommunalverbandes Ruhr (KVR) der Ruhrbezirk für absehbare Zeit erledigt?

Michael Vesper: Nein. Die Agentur ist eine sehr schlanke Organisation, die Anstöße geben und Kreatives initiieren soll. Sie soll wenig selber machen, aber viel in Bewegung bringen. Sie ist nicht mit dem Apparat des KVR als kommunaler Selbstorganisation zu vergleichen. Sie könnte ohne weiteres auch parallel zu einem Ruhrbezirk existieren.

In der politischen Auseinandersetzung um den Ruhrbezirk hat es eine starke Zusammenarbeit der Grünen mit der CDU gegeben, die vor allem über die Kampagne des Vereins pro Ruhrgebiet organisiert worden ist. Könnte das nicht ein Vorbote für schwarz-grüne Bündnisse auf kommunaler oder gar auf der Landesebene sein?

Michael Vesper: Für die Landesebene schließe ich eine Koalition der Grünen mit der CDU aus. Wir wollen die erfolgreiche Koalition mit der SPD über den Mai 2000 hinaus fortsetzen. Aber im Ruhrgebiet kann es möglicherweise in der einen oder anderen Stadt zu einer schwarz-grünen Zusammenarbeit kommen. Wir werden da von der Landesebene aus nicht steuernd eingreifen. Allein die jeweiligen Kreisverbände entscheiden das. Wie sie das tun, hängt ganz stark von der SPD vor Ort ab. Mülheim ist ein Beispiel: 1994 war die SPD durch selbstverschuldete Skandale sehr tief gefallen, aber nicht in der Lage, von ihrem hohen Roß herunterzusteigen. Wenn die SPD es schafft, ihre durch absolute Mehrheiten gewachsene Lethargie abzulegen und sich zu öffnen, dann sehe ich auch Chancen für Rot-Grün im Revier.

Aber so einfach ist die Zusammenarbeit mit der SPD doch auch nicht in der Landesregierung. Verkehrsminister Steinbrück fördert den Ausbau des Straßennetzes, besonders der Autobahnen im Ruhrgebiet. Ist da nicht wieder ein Konflikt mit den Grünen vorprogrammiert?

Michael Vesper: Konflikte gibt es immer, gerade auf den Gebieten, für die Kollege Steinbrück verantwortlich ist. Wir vertreten zum Teil unterschiedliche Ansätze, was die Verkehrspolitik angeht. Wir sind dafür, das Straßennetz so zu erhalten, daß es leistungsfähig ist, und meinen, daß die Zeiten des großen Neubaus vorbei sind. Die Landesregierung hat in den vergangenen Jahren viel erreicht, was den ÖPNV angeht. Ich denke an den integrierten Taktfahrplan, das verbesserte Angebot an Fahrzeugen, an die Fahrradstationen, an unser Bahnhofsprogramm. In diese Richtung muß es weitergehen.

Sie haben bereits in jungen Jahren intensive persönliche Erfahrungen mit Schwarz-Grün gemacht. Ihr verstorbener Vater war CDU-Ratsherr. "Hauptsach, de Jung ist nich in de SPD", soll er Ihren Eintritt in die Grünen kommentiert haben. Warum zeigen Sie sich so distanziert gegenüber politischen Bündnissen mit der CDU?

Michael Vesper: Kulturell bin ich gar nicht so distanziert. Meine Freundschaften machen an Parteigrenzen nicht halt - auch nicht zur CDU. In den siebziger Jahren war ich viel distanzierter. Da habe ich fast alles abgelehnt, was von der CDU kam.

Aber haben Sie nicht damals sogar Wahlplakate für die CDU geklebt?

Michael Vesper: Da war ich noch sehr jung. Später, als wir in den Siebzigern politisiert wurden, war die CDU für uns nicht akzeptabel. Heute ist die CDU für mich eine demokratische Partei, die die Chance hat, sich zu wandeln und zu öffnen. Aber das hat ja nichts mit Bündnissen zu tun. Wenn man versucht, Rot-Grün zum Erfolg zu führen, dann ist es widersinnig, über die Chancen von Schwarz-Grün zu spekulieren.

Sie möchten Rot-Grün zum Erfolg führen, indem Sie die Grünen zu einer Öko-F.D.P. machen wollen. Ist das nicht ein aberwitziger Weg? Der Sprecher der Landtagsgrünen, Roland Appel, hat eindringlich davor gewarnt - und er muß es wissen, schließlich ist er von der F.D.P. zu den Grünen gekommen.

Michael Vesper: Einspruch, Euer Ehren: Ich habe mich nie für eine grüne F.D.P. ausgesprochen. Schon deswegen nicht, weil ich keine Lust habe, in die Regionen abzusinken, in denen sich die F.D.P. in der Wählerzustimmung bewegt. Ich habe gesagt, daß wir bestimmte, im besten Sinne liberale Positionen, die die F.D.P. sträflich verraten hat, noch stärker als bisher aufnehmen sollten, zumal es hierfür auf dem Wählermarkt eine Nachfrage gibt. Und diese Positionen werden zur Zeit nur von den Grünen glaubwürdig angeboten.

Welche Positionen meinen Sie konkret?

Michael Vesper: Beispielsweise ein gesundes Mißtrauen gegenüber Großorganisationen, auch gegenüber einem zu starken Staat. Es geht darum, auf die Verantwortung aller zu setzen - und auch jedes einzelnen. Positionen, wie das konsequente Eintreten für Bürgerrechte, für Toleranz und für die Gleichstellung von alternativen Lebensformen sind heute nur noch bei den Grünen zu Hause. Wir müssen diese Positionen stärker herausstellen.

Wie verträgt sich das Eintreten für Bürgerrechte und für den Schutz von Minderheiten mit dem praktischen Handeln Ihrer Partei, zum Beispiel mit der von den Kölner Grünen veranlaßten polizeilichen Räumung von Flüchtlingen aus ihrer Geschäftsstelle?

Michael Vesper: Es ist für mich schwer, aus Düsseldorf eine Kölner Aktion zu bewerten. Ich kenne, was passiert ist, nur aus Zeitungen und Rundbriefen. Wir haben auch hier Besetzungen erlebt, und ich weiß, wie schwierig eine solche Situation gerade für die Mitarbeiter ist. Ich gehe davon aus, daß meine Kölner Parteifreunde alle Möglichkeiten ausgeschöpft haben, diese Sache anders als durch eine Polizeiaktion zu lösen. Doch das ist offenbar gescheitert.

Wenn Vertreter Ihrer Strömung, die 'Realos', einer "Liberalisierung" der Grünen das Wort reden, vermitteln sie nicht den Eindruck, als wollten sie verstärkt für Bürgerrechte streiten. Hier geht es doch wohl mehr um ein wirtschaftsliberales Profil.

Michael Vesper: Wenn man ökologische Politik durchsetzen will, dann muß man in der Lage sein, auch mit den Teilen der Wirtschaft zusammenzuarbeiten, die für ein solches Gedankengut empfänglich sind. Und die mit dem ökologischen Wandel auch Geld verdienen können. Wir müssen bei der Umsetzung ökologischer Ziele noch stärker auf Anreizsysteme und Zielvereinbarungen setzen.

Ist das innerhalb der Grünen heute noch umstritten?

Michael Vesper: Erfreulicherweise setzt sich dieser Gedanke in der Partei immer mehr durch. Ich kämpfe seit langem dafür.

Zu Ihrer Person: Kritiker meinen, Sie würden gegenüber Ihrer grünen Kabinettskollegin Bärbel Höhn recht blaß wirken. Sie verkörpern für viele eher den netten Schwiegersohn von nebenan als einen starken Grünen-Politiker, der den selbstherrlichen NRW-Sozis auch mal richtig Paroli bieten könnte. Haben Sie kein Problem mit einem solchen Image?

Michael Vesper: Ich sehe nicht, daß ich ein solches Image habe, geschweige denn, daß es zutrifft. Aber ich will nicht kommentieren, wie andere mich sehen. Ich weiß nur, daß ich die Dinge, die ich in dieser Koalition durchsetzen wollte, durchgesetzt habe.

In Kürze erscheint eine CD, auf der man den Politiker Vesper als Blues-Sänger wird bewundern können. Bereiten Sie gerade Ihren Umstieg in die Musikbranche vor?

Michael Vesper: Ich habe lediglich der Bitte eines Freundes entsprochen, den alten Blues-Brothers-Hit "She caught the Katy" mit einem ironischen, auf uns Politiker gemünzten Text zu singen. "Habe die Ehre", heißt das bei mir. Ob ich dafür Bewunderung ernte, wage ich zu bezweifeln. Aber wer weiß: Vielleicht komme ich später darauf zurück, um eine wunderbare neue Karriere zu starten.

Sie machen seit 1983 hauptberuflich Politik und haben sich mittlerweile als NRW-Minister eine Pension von fast 15.000 Mark pro Monat ab dem 55. Lebensjahr gesichert. Haben Sie keine Lust, mal etwas ganz anderes zu machen? Eine neue Karriere als Musiker könnten Sie sich doch leisten.

Michael Vesper: Mir macht Politik immer noch Spaß. Und ich will meine Arbeit über den 14. Mai 2000 hinaus fortsetzen. Singen kann ich irgendwann später dann immer noch.

Herr Vesper, vielen Dank für das Gespräch.


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