Frau Riehl, Sie
fordern Türkisch ab dem Kindergarten - für alle Kinder, auch für
die deutschstämmigen. Wie kommen Sie darauf?
Claudia Maria Riehl:
Ich halte es für sinnvoll, dass alle Kinder möglichst früh eine
zweite Sprache lernen. Dafür bietet sich eine Umgebungssprache an,
weil die Kinder sie mit Gleichaltrigen auch praktizieren können. In
diesem Sinne wäre das Türkische sehr gut geeignet. Allerdings kann
es auch durchaus eine andere Sprache sein: Italienisch, Spanisch oder
auch Russisch zum Beispiel.
Was spricht denn
speziell für Türkisch?
Claudia Maria Riehl:
Türkisch hat besondere Vorteile: Erstens sprechen die meisten
Migrantenkinder der Umgebung Türkisch. Deswegen kann die Sprache auch
in einem natürlichen Umfeld jenseits des Kindergartens oder der
Schule geübt werden. Zweitens ist die türkische Sprache keine
indoeuropäische Sprache wie das Deutsche, Italienische, Spanische
oder auch das Russische. Sie hat vielmehr eine eigene, komplexe
Struktur. Sie funktioniert wie ein Baukastensystem und bietet damit
eine gute Basis, um andere Sprachen darauf aufzubauen.
Sie sind sich
schon bewusst über die Empörungsstürme, die eine solche Forderung
bei der Mehrheitsgesellschaft hervorrufen könnte?
Claudia Maria Riehl:
Na ja, es braucht noch etwas Überzeugungsarbeit. Das Problem ist: Das
Türkische hat nicht das Prestige wie manch andere europäische
Sprache. Das liegt nicht zuletzt daran, dass das Prestige einer
Sprache stark mit dem ihrer Sprecher verknüpft ist. Die Menschen, die
aus der Türkei einwanderten, stammten in der Regel aus sehr
einfachen, bildungsfernen Verhältnissen. Entsprechend niedrig ist das
Sozialprestige - und damit auch das Prestige ihrer Sprache. Wenn
jemand in Istanbul mit einem türkischen Intellektuellen redet, wird
er sicher anders über dessen Sprache denken. Das Türkische wird
jedoch nur als Migrationssprache wahrgenommen, mit ihm verbindet die
Mehrheitsgesellschaft leider weder etwas Weltläufiges, wie dies bei
Englisch der Fall ist, noch etwas kulturell Wertvolles, wie mit
Italienisch oder Griechisch. Das macht es für das Türkische schwer.
Aber das kann sich ja ändern. Es muss allerdings noch viel
Lobbyarbeit geleistet werden, um das Türkische bei uns salonfähig zu
machen.
Aber wäre nicht
ohnehin Englisch als erste Fremdsprache wesentlich nützlicher?
Claudia Maria Riehl:
Ich habe überhaupt nichts gegen das Englische, das ist für uns ja
ohnehin die wichtigste Fremdsprache. Trotzdem bin ich nicht dieser
Ansicht, dass es als erste Fremdsprache gelernt werden soll. Denn
neben dem fehlenden natürlichen Umfeld spricht die recht einfache
Grammatik dagegen. Sie ermöglicht es, dass man im Englischen relativ
schnelle Fortschritte machen kann. Zudem ist der Impetus, Englisch als
Weltsprache zu lernen, ohnehin so groß, dass die Kinder das später
auch lernen wollen. Dass man sie aber dazu kriegt, nach dem Englischen
noch eine dritte oder vierte Sprache zu lernen, ist viel schwieriger.
Ich halte jedoch nichts davon, dass wir nur zweisprachig mit Englisch
und Deutsch aufwachsen. Auch der Europäische Sprachenrat fordert,
dass jeder Europäer zwei Fremdsprachen können sollte. Also plädiere
ich für den umgekehrten Weg: Es wäre gut, im Kindergarten mit einer
Umgebungssprache anzufangen und dann in der dritten oder vierten
Klasse Englisch hinzuzunehmen.
Würde das nicht
eine Überfrachtung mit Sprachunterricht bedeuten, die auf Kosten
anderer Fächer gehen muss?
Claudia Maria Riehl:
Nein, muss es überhaupt nicht. Aus Kanada stammt das sehr zukunftsträchtige
"Immersionsmodell", nach dem das sehr gut funktionieren könnte.
Ich will es Ihnen illustrieren: Ein Kind lernt ab dem Kindergarten
beispielsweise Spanisch als erste Fremdsprache. Ab der dritten Klasse
entfällt ein eigener Spanischunterricht, dafür wird Spanisch dann
zur Unterrichtssprache im Fach Sachkunde. Dadurch wird Stundenkapazität
frei, um zum Beispiel Englisch als Sprache zu unterrichten. Das System
lässt sich dann auch mit einer dritten Fremdsprache fortsetzen.
In Grenzregionen
wie dem Niederrhein lernen viele Kinder ab der 5. Klasse Niederländisch.
Was halten Sie davon?
Claudia Maria Riehl:
Das EU-Programm unterstütze ich. Allerdings wäre es auch hier
besser, bereits in der Grundschule oder auch schon früher damit zu
beginnen.
Was sind denn die
Vorteile einer frühen Zweisprachigkeit?
Claudia Maria Riehl:
Das frühe Erlernen einer zweiten Sprache bringt unter anderem gewisse
kognitive Vorteile mit sich. So wurde in sprachwissenschaftlichen
Studien herausgefunden, dass Mehrsprachige Aufgaben besser lösen können,
bei denen man einen Sachverhalt blockieren und sich auf einen anderen
konzentrieren muss. Dazu sind Mehrsprachige besser in der Lage, weil
sie zuvor bereits gelernt haben, die eine Sprache auszublenden, wenn
sie die andere sprechen. Außerdem haben sie ein höheres so genanntes
metasprachliches Bewusstsein: Sie konzentrieren sich nicht nur auf den
Inhalt von Sätzen, sondern auch auf die äußere Form.
Mehrsprachige
Kinder können also besser denken?
Claudia Maria Riehl:
Das zu behaupten, wäre übertrieben. Aber sie haben einen gewissen
Entwicklungsvorsprung. Außerdem wirkt sich Zwei- oder
Mehrsprachigkeit auch auf die Persönlichkeit aus: Mehrsprachige sind
oft toleranter, weil sie gelernt haben, andere Sichtweisen
einzunehmen. Wenn man eine fremde Sprache lernt, lernt man eben nicht
nur eine Sprache, sondern auch andere Denkweisen kennen. Anders als in
Mitteleuropa ist übrigens global gesehen Mehrsprachigkeit der Normal-
und Einsprachigkeit der Ausnahmefall. In Afrika, in Asien, in Südamerika
oder auch in Osteuropa sprechen fast alle Menschen mindestens zwei
Sprachen.
Dann sollten sich
am besten schon Eltern mit ihren Kindern in zwei Sprachen unterhalten?
Claudia Maria Riehl:
Sie sollten in ihrer jeweiligen Muttersprache mit ihren Kindern
sprechen. Denn es ist nicht gut für die sprachliche Entwicklung eines
Kindes, dass man mit ihm in einer Sprache spricht, die man selbst
nicht vollständig beherrscht. Auch wenn ich Eltern kennen gelernt
habe, die selbst deutsche Muttersprachler sind und mit ihren Kindern
Englisch sprechen: Das ist übertrieben und nicht sehr hilfreich.
Sie sind also
auch dafür, dass sich türkischstämmige Eltern mit ihren Kindern auf
türkisch unterhalten?
Claudia Maria Riehl:
Ja, allerdings reicht das nicht. Ich trete zugleich für eine
Intensivierung der muttersprachlichen Förderung im vorschulischen und
im schulischen Bereich ein. Denn es genügt nicht, wenn Kinder aus
Migrantenfamilien ihre Muttersprache nur sprechen können. Die mündliche
Sprache ist ja sehr eingeschränkt. In ihr gibt es viele komplexe
Strukturen gar nicht, die typisch für die Schriftsprache sind.
Deshalb ist es wichtig, dass Migrantenkinder auch die Schriftsprache
lernen. Wir haben valide Ergebnisse, beispielsweise aus den USA, die
beweisen, dass die Kompetenz der Muttersprache die Kompetenz in der
Zweitsprache stärkt. Das ist so eine Art Wechselwirkung. Wenn ich
einmal gelernt habe, in den komplexeren Strukturen meiner Erstsprache
zu denken, kann ich sie auch in andere Sprachen übertragen. Wenn das
nicht gelingt und ich das auch in der Zweitsprache nicht schaffe,
spricht man von einer doppelten Halbsprachigkeit. Dem muss man
entgegenwirken.
Der Trend geht
aber weg vom muttersprachlichen Unterricht zugunsten einer
Konzentration auf die Deutschförderung.
Claudia Maria Riehl:
Das stimmt. Aber es ist falsch, das eine gegen das andere zu setzen.
Aber gibt es
nicht doch gute Gründe dafür?
Claudia Maria Riehl:
Es gibt gute Gründe dafür, den Unterricht anders zu gestalten, aber
nicht dafür, ihn abzuschaffen. Der muttersprachliche Unterricht in
seiner bisherigen Form war tatsächlich nicht immer effizient. Alleine
schon die Idee, ihn nur als nachmittäglichen Zusatzunterricht, der
nicht benotet wird, anzubieten, war kontraproduktiv weil nicht
motivationsfördernd. Außerdem orientierte sich der Unterricht oft
nicht auf eine integrierte Sprachdidaktik hin, also auf eine
Zusammenarbeit der Sprachlehrer. Wir brauchen hier gut ausgebildete
Lehrkräfte, die auch mit Lehrern anderer Fächer kooperieren. Es müssen
Wechselbeziehungen hergestellt werden.
Und Sie wollen
dann auch deutsche Kinder in den türkischen muttersprachlichen
Unterricht setzen?
Claudia Maria Riehl:
Warum nicht? Man hat leider noch viel zu wenig erkannt, dass der
Muttersprachenunterricht auch deutschen Kindern nutzen kann. Wenn ich
zum Beispiel Italienisch anbiete für italienische Migrantenkinder,
dann kann ich da tatsächlich auch Deutsche reinsetzen. In Modellen
gibt es das bereits. So haben wir hier in Köln zwei Grundschulen mit
einem italienisch-deutschen Zug. In Berlin-Kreuzberg gibt es auch
schon einige türkisch-deutsche Klassen, in denen auch deutsche Kinder
Türkisch lernen. Die Deutschen hätten zwar einen kleinen Akzent,
aber ansonsten seien sie inzwischen genauso gut wie ihre türkischstämmigen
Mitschüler, hat mir eine Lehrerin bestätigt. Es wäre gut, wenn es
mehr solcher Modelle gäbe.
Mit wie vielen
Sprachen sind Sie eigentlich aufgewachsen?
Claudia Maria Riehl:
Wenn Sie so wollen, ist meine "Muttersprache" Bairisch.
Meine erste "Fremdsprache" war Deutsch, meine zweite Latein.
Die erste lebende Fremdsprache, Englisch, habe ich mit Dreizehn
richtig gelernt. Viel zu spät, wie ich finde. Das war eigentlich eine
völlige Verschwendung von Ressourcen. Als Erwachsene habe ich
Italienisch studiert, Französisch, Spanisch, Russisch und in Prag
auch noch Tschechisch gelernt. Jetzt habe ich mit Türkisch
angefangen. Ich empfinde es als schade, dass ich nicht schon als Kind
die Möglichkeit hatte, mehrere Sprachen zu lernen.
z u r p e r s
o n
CLAUDIA MARIA RIEHL,
geboren 1962 im bayrischen Ingolstadt, ist seit 2004 Professorin für
Sprachwissenschaft des Deutschen an der Universität Köln. Sie
hat Germanistik, Italianistik und Klassische Philologie in Bamberg,
Regensburg und Eichstätt studiert. 1991 promovierte Riehl an der
Katholischen Universität Eichstätt zur Doktorin der Philosophie.
Ihre Habilitation erfolgte sieben Jahre später an der Universität
Freiburg mit einem "Beitrag zu einer Theorie der mehrsprachigen
Gesellschaft am Beispiel der deutschsprachigen Minderheiten in Südtirol
und Ostbelgien".
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