27.05.2006



Interview mit Claudia Maria Riehl

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taz

*  "Mehrsprachige sind oft toleranter"
Von Pascal Beucker und Natalie Wiesmann

Frau Riehl, Sie fordern Türkisch ab dem Kindergarten - für alle Kinder, auch für die deutschstämmigen. Wie kommen Sie darauf?

Claudia Maria RiehlClaudia Maria Riehl: Ich halte es für sinnvoll, dass alle Kinder möglichst früh eine zweite Sprache lernen. Dafür bietet sich eine Umgebungssprache an, weil die Kinder sie mit Gleichaltrigen auch praktizieren können. In diesem Sinne wäre das Türkische sehr gut geeignet. Allerdings kann es auch durchaus eine andere Sprache sein: Italienisch, Spanisch oder auch Russisch zum Beispiel.

Was spricht denn speziell für Türkisch?

Claudia Maria Riehl: Türkisch hat besondere Vorteile: Erstens sprechen die meisten Migrantenkinder der Umgebung Türkisch. Deswegen kann die Sprache auch in einem natürlichen Umfeld jenseits des Kindergartens oder der Schule geübt werden. Zweitens ist die türkische Sprache keine indoeuropäische Sprache wie das Deutsche, Italienische, Spanische oder auch das Russische. Sie hat vielmehr eine eigene, komplexe Struktur. Sie funktioniert wie ein Baukastensystem und bietet damit eine gute Basis, um andere Sprachen darauf aufzubauen.

Sie sind sich schon bewusst über die Empörungsstürme, die eine solche Forderung bei der Mehrheitsgesellschaft hervorrufen könnte?

Claudia Maria Riehl: Na ja, es braucht noch etwas Überzeugungsarbeit. Das Problem ist: Das Türkische hat nicht das Prestige wie manch andere europäische Sprache. Das liegt nicht zuletzt daran, dass das Prestige einer Sprache stark mit dem ihrer Sprecher verknüpft ist. Die Menschen, die aus der Türkei einwanderten, stammten in der Regel aus sehr einfachen, bildungsfernen Verhältnissen. Entsprechend niedrig ist das Sozialprestige - und damit auch das Prestige ihrer Sprache. Wenn jemand in Istanbul mit einem türkischen Intellektuellen redet, wird er sicher anders über dessen Sprache denken. Das Türkische wird jedoch nur als Migrationssprache wahrgenommen, mit ihm verbindet die Mehrheitsgesellschaft leider weder etwas Weltläufiges, wie dies bei Englisch der Fall ist, noch etwas kulturell Wertvolles, wie mit Italienisch oder Griechisch. Das macht es für das Türkische schwer. Aber das kann sich ja ändern. Es muss allerdings noch viel Lobbyarbeit geleistet werden, um das Türkische bei uns salonfähig zu machen.

Aber wäre nicht ohnehin Englisch als erste Fremdsprache wesentlich nützlicher?

Claudia Maria Riehl: Ich habe überhaupt nichts gegen das Englische, das ist für uns ja ohnehin die wichtigste Fremdsprache. Trotzdem bin ich nicht dieser Ansicht, dass es als erste Fremdsprache gelernt werden soll. Denn neben dem fehlenden natürlichen Umfeld spricht die recht einfache Grammatik dagegen. Sie ermöglicht es, dass man im Englischen relativ schnelle Fortschritte machen kann. Zudem ist der Impetus, Englisch als Weltsprache zu lernen, ohnehin so groß, dass die Kinder das später auch lernen wollen. Dass man sie aber dazu kriegt, nach dem Englischen noch eine dritte oder vierte Sprache zu lernen, ist viel schwieriger. Ich halte jedoch nichts davon, dass wir nur zweisprachig mit Englisch und Deutsch aufwachsen. Auch der Europäische Sprachenrat fordert, dass jeder Europäer zwei Fremdsprachen können sollte. Also plädiere ich für den umgekehrten Weg: Es wäre gut, im Kindergarten mit einer Umgebungssprache anzufangen und dann in der dritten oder vierten Klasse Englisch hinzuzunehmen.

Würde das nicht eine Überfrachtung mit Sprachunterricht bedeuten, die auf Kosten anderer Fächer gehen muss?

Claudia Maria Riehl: Nein, muss es überhaupt nicht. Aus Kanada stammt das sehr zukunftsträchtige "Immersionsmodell", nach dem das sehr gut funktionieren könnte. Ich will es Ihnen illustrieren: Ein Kind lernt ab dem Kindergarten beispielsweise Spanisch als erste Fremdsprache. Ab der dritten Klasse entfällt ein eigener Spanischunterricht, dafür wird Spanisch dann zur Unterrichtssprache im Fach Sachkunde. Dadurch wird Stundenkapazität frei, um zum Beispiel Englisch als Sprache zu unterrichten. Das System lässt sich dann auch mit einer dritten Fremdsprache fortsetzen.

In Grenzregionen wie dem Niederrhein lernen viele Kinder ab der 5. Klasse Niederländisch. Was halten Sie davon?

Claudia Maria Riehl: Das EU-Programm unterstütze ich. Allerdings wäre es auch hier besser, bereits in der Grundschule oder auch schon früher damit zu beginnen.

Was sind denn die Vorteile einer frühen Zweisprachigkeit?

Claudia Maria Riehl: Das frühe Erlernen einer zweiten Sprache bringt unter anderem gewisse kognitive Vorteile mit sich. So wurde in sprachwissenschaftlichen Studien herausgefunden, dass Mehrsprachige Aufgaben besser lösen können, bei denen man einen Sachverhalt blockieren und sich auf einen anderen konzentrieren muss. Dazu sind Mehrsprachige besser in der Lage, weil sie zuvor bereits gelernt haben, die eine Sprache auszublenden, wenn sie die andere sprechen. Außerdem haben sie ein höheres so genanntes metasprachliches Bewusstsein: Sie konzentrieren sich nicht nur auf den Inhalt von Sätzen, sondern auch auf die äußere Form.

Mehrsprachige Kinder können also besser denken?

Claudia Maria Riehl: Das zu behaupten, wäre übertrieben. Aber sie haben einen gewissen Entwicklungsvorsprung. Außerdem wirkt sich Zwei- oder Mehrsprachigkeit auch auf die Persönlichkeit aus: Mehrsprachige sind oft toleranter, weil sie gelernt haben, andere Sichtweisen einzunehmen. Wenn man eine fremde Sprache lernt, lernt man eben nicht nur eine Sprache, sondern auch andere Denkweisen kennen. Anders als in Mitteleuropa ist übrigens global gesehen Mehrsprachigkeit der Normal- und Einsprachigkeit der Ausnahmefall. In Afrika, in Asien, in Südamerika oder auch in Osteuropa sprechen fast alle Menschen mindestens zwei Sprachen.

Dann sollten sich am besten schon Eltern mit ihren Kindern in zwei Sprachen unterhalten?

Claudia Maria Riehl: Sie sollten in ihrer jeweiligen Muttersprache mit ihren Kindern sprechen. Denn es ist nicht gut für die sprachliche Entwicklung eines Kindes, dass man mit ihm in einer Sprache spricht, die man selbst nicht vollständig beherrscht. Auch wenn ich Eltern kennen gelernt habe, die selbst deutsche Muttersprachler sind und mit ihren Kindern Englisch sprechen: Das ist übertrieben und nicht sehr hilfreich.

Sie sind also auch dafür, dass sich türkischstämmige Eltern mit ihren Kindern auf türkisch unterhalten?

Claudia Maria Riehl: Ja, allerdings reicht das nicht. Ich trete zugleich für eine Intensivierung der muttersprachlichen Förderung im vorschulischen und im schulischen Bereich ein. Denn es genügt nicht, wenn Kinder aus Migrantenfamilien ihre Muttersprache nur sprechen können. Die mündliche Sprache ist ja sehr eingeschränkt. In ihr gibt es viele komplexe Strukturen gar nicht, die typisch für die Schriftsprache sind. Deshalb ist es wichtig, dass Migrantenkinder auch die Schriftsprache lernen. Wir haben valide Ergebnisse, beispielsweise aus den USA, die beweisen, dass die Kompetenz der Muttersprache die Kompetenz in der Zweitsprache stärkt. Das ist so eine Art Wechselwirkung. Wenn ich einmal gelernt habe, in den komplexeren Strukturen meiner Erstsprache zu denken, kann ich sie auch in andere Sprachen übertragen. Wenn das nicht gelingt und ich das auch in der Zweitsprache nicht schaffe, spricht man von einer doppelten Halbsprachigkeit. Dem muss man entgegenwirken.

Der Trend geht aber weg vom muttersprachlichen Unterricht zugunsten einer Konzentration auf die Deutschförderung.

Claudia Maria Riehl: Das stimmt. Aber es ist falsch, das eine gegen das andere zu setzen.

Aber gibt es nicht doch gute Gründe dafür?

Claudia Maria Riehl: Es gibt gute Gründe dafür, den Unterricht anders zu gestalten, aber nicht dafür, ihn abzuschaffen. Der muttersprachliche Unterricht in seiner bisherigen Form war tatsächlich nicht immer effizient. Alleine schon die Idee, ihn nur als nachmittäglichen Zusatzunterricht, der nicht benotet wird, anzubieten, war kontraproduktiv weil nicht motivationsfördernd. Außerdem orientierte sich der Unterricht oft nicht auf eine integrierte Sprachdidaktik hin, also auf eine Zusammenarbeit der Sprachlehrer. Wir brauchen hier gut ausgebildete Lehrkräfte, die auch mit Lehrern anderer Fächer kooperieren. Es müssen Wechselbeziehungen hergestellt werden.

Und Sie wollen dann auch deutsche Kinder in den türkischen muttersprachlichen Unterricht setzen?

Claudia Maria Riehl: Warum nicht? Man hat leider noch viel zu wenig erkannt, dass der Muttersprachenunterricht auch deutschen Kindern nutzen kann. Wenn ich zum Beispiel Italienisch anbiete für italienische Migrantenkinder, dann kann ich da tatsächlich auch Deutsche reinsetzen. In Modellen gibt es das bereits. So haben wir hier in Köln zwei Grundschulen mit einem italienisch-deutschen Zug. In Berlin-Kreuzberg gibt es auch schon einige türkisch-deutsche Klassen, in denen auch deutsche Kinder Türkisch lernen. Die Deutschen hätten zwar einen kleinen Akzent, aber ansonsten seien sie inzwischen genauso gut wie ihre türkischstämmigen Mitschüler, hat mir eine Lehrerin bestätigt. Es wäre gut, wenn es mehr solcher Modelle gäbe.

Mit wie vielen Sprachen sind Sie eigentlich aufgewachsen?

Claudia Maria Riehl: Wenn Sie so wollen, ist meine "Muttersprache" Bairisch. Meine erste "Fremdsprache" war Deutsch, meine zweite Latein. Die erste lebende Fremdsprache, Englisch, habe ich mit Dreizehn richtig gelernt. Viel zu spät, wie ich finde. Das war eigentlich eine völlige Verschwendung von Ressourcen. Als Erwachsene habe ich Italienisch studiert, Französisch, Spanisch, Russisch und in Prag auch noch Tschechisch gelernt. Jetzt habe ich mit Türkisch angefangen. Ich empfinde es als schade, dass ich nicht schon als Kind die Möglichkeit hatte, mehrere Sprachen zu lernen.


z u r  p e r s o n

CLAUDIA MARIA RIEHL, geboren 1962 im bayrischen Ingolstadt, ist seit 2004 Professorin für Sprachwissenschaft des Deutschen an der Universität Köln. Sie hat Germanistik, Italianistik und Klassische Philologie in Bamberg, Regensburg und Eichstätt studiert. 1991 promovierte Riehl an der Katholischen Universität Eichstätt zur Doktorin der Philosophie. Ihre Habilitation erfolgte sieben Jahre später an der Universität Freiburg mit einem "Beitrag zu einer Theorie der mehrsprachigen Gesellschaft am Beispiel der deutschsprachigen Minderheiten in Südtirol und Ostbelgien".


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